21 Gramm

21 Gramm

(„21 Grams“ directed by Alejandro González Iñarritu, 2003)

21GrammDrei Jahre nach Erscheinen des von Kritikern und Publikum gefeierten Amores Perros erscheint also der zweite Film von Alejandro González Iñarritu. 21 Gramm lautet der Titel und weist allein mit der Besetzung auf den Aufstieg des Mexikaners in Hollywood hin. Das muss erst mal nicht zwangsläufig gut sein. Vielen hat eine Kommerzialisierung, beziehungsweise ein größeres Budget, nicht automatisch einen besseren oder gleichguten Film beschert. So stellt sich hier die Frage, ob Iñarritu den Erfolg seines Debüts wiederholen kann. Wieder sind drei Lebensschicksale durch einen Unfall miteinander verwoben.

Der krebskranke, und deshalb resignierte, Mathematikprofessor Paul Rivers (Sean Penn) erwartet zusammen mit seiner unfruchtbaren Frau Mary (Charlotte Gainsbourg) seinen baldigen Tod. Neue Hoffnung kommt auf, als unerwarteterweise durch einen Autounfall ein geeignetes Spenderherz zu einer Transplantation bereit liegt. Der ehemalige Häftling Jack Jordan (Benicio Del Toro) ist nach einer Phase der Kriminalität geläutert und zum eingefleischten Verfechter des christlichen Glaubens geworden, bis er durch den Autounfall, den er verursacht, in erneute Zweifel gerät. Cristina Peck (Naomi Watts) hat nach ihrer Drogen-Party-Vergangenheit eine Familie gegründet und lebt ein typisches Mittelschichtleben. Bis sie ihren Mann und ihre Töchter bei einem Autounfall verliert.

Der Titel von Iñarritus erstem Hollywoodfilm verweist auf den Fakt, dass der Mensch unmittelbar nach Eintritt des Todes 21 Gramm verliert. Im seinem zweiten Film seiner Trilogie über zwischenmenschliche Beziehungen geht der mexikanische Regisseur weniger der Frage nach, ob es nun die Seele ist, die soviel wiegt. Vielmehr zeichnet er in impressionistischen Zügen – im Gegensatz zu seinem expressionistischen Amores Perros – drei Lebensschicksale nach, die sich wie in seinem Erstlingswerk durch einen Autounfall verbinden. Eine Anspielung von Paul Rivers ermöglicht dennoch eine plausible Erklärung für den Titel: Er sagt er möchte alle Gedanken und Eindrücke durch Zahlen ausdrücken. So oder ähnlich muss wohl auch das Motiv für den „Mexikanischen Tarantino“ gewesen sein, als er seinen zweiten Film betitelte.

Während in Amores Perros drei Episoden in nicht chronologischer Erzählweise die Handlung wiedergeben, wird in 21 Gramm der Film in Mosaiksteinchen zerschnitten und in abwechselnden Szenen in nicht-linearer Form vermittelt. Es erscheint fast so, als wolle Iñarritu mit dem Zuschauer „Memory“ spielen. Denn es liegt am Publikum, die einzelnen Fetzen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Das ganze wird dadurch „erleichtert“, dass die einzelnen Sequenzen einen Schritt ruhiger sind im Vergleich zu Amores Perros, was durch zwei weitere Arrangements abgerundet wird. Zum einen sind das die flächigen Post-Rock-Gitarrenlänge – die stark an „Lichter“ erinnern oder umgekehrt – die die Schwere der Tragik, die im Film permanent in der Luft zu liegen scheint perfekt einfängt. Und zum anderen ist es die überragend gestaltete Lichtführung.

Hier erinnert Iñarritu – in der Art und Weise, wie er das klare Tageslicht überwältigend und in nie zuvor dagewesener Form einbringt – an die impressionistische Malerei des 19. Jahrhunderts (allen voran an Caspar David Friedrich). Durch das Licht verbleichen die Farben zwar, aber zusammen mit den grobkörnig wirkenden Bildern (wie bereits in Amores Perros) wirkt die Ästhetik homogen und besticht durch eine Schärfe und Klarheit, die einen intensiven Realismus darlegen. Ein weiterer, essentieller Unterschied zu Amores Perros ist, dass der Autounfall in 21 Gramm gar nicht gezeigt wird. Während der Unfall im Debüt des Mexikaners aufwendig, mit neuen Kameras, inszeniert worden war, wird das Ereignis in Iñarritus zweiten Film lediglich angedeutet. Der Schrecken bekommt in 21 Gramm eine psychische Dimension im Gegensatz zur Action betonten Variante in Amores Perros.

Dieser Realismus wird nicht zuletzt durch die überragenden schauspielerischen Darbietungen von Sean Penn (Mystic River, Milk), Benicio Del Toro (Traffic, Sin City) und Naomi Watts (Mulholland Drive, Tödliche Versprechen) ermöglicht. Erst sie machen die Achterbahnfahrt aus Verzweiflung und Hoffnung, die sich um die grundlegenden Themen „Leben“ und „Tod“ drehen, durch ihre Rollen greifbar. Allein in ihren Gesichtern wird durch Mimik und Gesten sichtbar, was der Mensch verliert, wenn er 21 Gramm verliert.

Neben der Nähe – aufgrund der narrativen Verwandtschaft – zu Quentin Tarantino, fällt eine inhaltliche und erzähltechnische Ähnlichkeit zu Lichter (Hans Christian Schmid) oder auch Magnolia (Paul Thomas Anderson) auf. Mit 21 Gramm ist Iñarritu tatsächlich ein weiterer, 125 Minuten umfassender, Meilenstein der Filmgeschichte gelungen. Aufgrund seines hohen (inhaltlichen und kognitiven) Anspruchs wird er wohl trotzdem keine großen Kreise bedienen.



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