(„Waking Life“ directed by Richard Linklater, 2001)
Ein Animationsfilm aus dem Jahr 2001. Klingt nicht unbedingt nach etwas Neuem. Ein experimenteller Animationsfilm über die Kultur-, Ideen- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts schon eher. Mit Waking Life liefert Richard Linklater (Before Sunrise, Before Sunset) jedenfalls einen bedeutungsschwangeren Film, der gleichzeitig vor visuellen Spielereien nur so strotzt. Ein Film, den man mehrmals anschauen muss, um alles zu erfassen.
Der Jugendliche Wiley Wiggins begibt sich als „Traumforscher“ auf einen Existenz-Trip durch eine Traumlandschaft. Dabei trifft er auf unterschiedliche Protagonisten – fremde oder berühmte Personen (z.B. die Schauspieler aus (Before Sunrise Ethan Hawke und Julie Delpy oder der Regisseur Steven Soderbergh) –, die mit ihm über „Gott und die Welt“ philosophieren. Neben zeitgenössischen Philosophen werden auch Schriftsteller wie der Science-Fiction-Kultautor Philip K. Dick zitiert. Der „metaphysische Sherlock Holmes“ findet durch diese Gespräche heraus, dass er sich in einem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod befindet und er daraus nicht aufwachen kann.
Waking Life besticht durch seine innovative – nie dagewesene – Ästhetik. Hierfür wurde im ersten Schritt nach dem Schema der so genannten „kontrollierten Improvisation“ gedreht, die man auch als eine Art digitales „Rotoskopie-Verfahren“ bezeichnet: in dreieinhalb Wochen auf Mini-DV-Kameras mit kleiner Crew und echten Schauspielern. Im zweiten Schritt ließ Linklater dann jedes einzelne Bild schrittweise, unter der kreativen Anleitung von Bob Sabiston, von einem 30-köpfigen Künstlerteam gestalten. Das Ergebnis ist ein expressionistisches Fresko, das durch die Kombination von echtem Dreh und zeichentrickmäßige Nachbearbeitung völlig neue Möglichkeiten offenbart. In diesem Zusammenhang sei nur auf den ersten animierten Dokumentarfilm Waltz with Bashir (Ari Folman) verwiesen.
Inhaltlich liefert Waking Life ein Feuerwerk an Gedankenspielen ab, das Seinesgleichen im filmischen Bereich sucht. Die Verbindung von tieftrabenden Lebensfragen und Animation harmoniert perfekt. Kritiker sehen in Linklaters Film, mit dessen Erwachen-Motiv, ein Anknüpfen an die lateinamerikanische Avantgardeliteratur gegeben. So geht die Zeit des Erwachens mit einer Sinnsuche einher, der eine authentische und fiktive Kulturgeschichte zugrunde liegt. Der Vergleich mit den Argentiniern Jorges Luis Borges (Tlön, Uqbar, Orbis Tertius) oder Julio Cortázar (Bestiario) liegt genauso nahe, wie die ewige Suche in den Romanen von dem Chilenen Roberto Bolano (Los detectives salvajes). Hier wird die Suche in phantastischen Romanen stilisiert, sie wird endlich um ihrer Selbstwillen durchgeführt.
Und an diesem Punkt setzt die weitläufige Kritik an. Linklater wird dabei vorgeworfen, dass im Gegensatz zu seinen literarischen Vorbildern Waking Lifes Spiel mit Querverweisen und Zitaten willkürlich wirke und, dass keine Geheimnisse aufgedeckt würden. Was diese Autoren als Schwachpunkte herausstellen kann man aber genauso als Pluspunkt darstellen: Linklater erhebt gar nicht den Anspruch die Weisheit mit dem Löffel gegessen zu haben und lüftet deswegen keine Geheimnisse. Sein Spiel wirkt vielleicht willkürlich, aber das ist das Leben an sich in der Realität in der Regel auch. Von daher, sind die „Willkür“ und das „Fehlen eines Geheimnisses“ kein stichhaltiges Argument. Denn Linklater lässt auf seine Weise letztlich mehrere Interpretationsmöglichkeiten offen, die für jeden eine subjektive Deutung ermöglicht. Und das kommt der „Wahrheit“ näher.
Bereits in Linklaters anderen Filmen wie Slacker, Dazed and Confused oder Suburbia wirkten die Protagonisten traumwandlerisch passiv gegenüber der Realität und philosophierten über ihre Weltanschauungen. In Waking Life wird dies dann zum eigentlichen Sujet. Linklaters 100 Minuten umspannender Animationsfilm ist geradezu dazu prädestiniert, dass man ihn mehrmals anschaut, weil er den Zuschauer mit einer Fülle Informationen und Querverweisen konfrontiert. Voraussetzungen sind eine Vorliebe für surreale Stoffe und anspruchsvolle Inhalte. Für Cineasten ist der Film ohnehin schon alleine wegen seiner innovativen Bildsprache Pflicht. Leider liegt nach meiner Recherche bisher nur ein UK-Import als DVD vor.
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