(„Sen To Chihiro No Kamikakushi“ directed by Hayao Miyazaki, 2001)
Nachdem dem Studio Ghibli und dem Regisseur Hayao Miyazaki 1997 mit Prinzessin Mononoke der internationale Durchbruch gelungen war, schlagen sie mit Chihiros Reise ins Zauberland erneut zu. Die Erwartungshaltung war nach ihrem „Herr der Ringe“-Animationsfilm enorm hoch. Doch diesmal liefern sie keine Schlacht zwischen Mensch und Natur, sondern einen Fantasyepos à la „Alice im Wunderland“.
Die Eltern des noch jungen Mädchens Chihiro verfahren sich bei ihrem Umzug und geraten auf diese Weise durch einen Tunnel in einen verlassen Vergnügungspark. Gegen Chihiros Bedenken greifen ihre Eltern bei einem leerstehenden Festbankett voll zu und verwandeln sich dadurch in Schweine. Als die Dämmerung eintritt versucht der besorgte Junge Haku Chihiro zu retten. Denn diese befindet sich fortan widerwillig in einer hermetisch abgeschlossenen Fantasiewelt gefangen. Haku bedeutet ihr, dass sie nur überleben kann, wenn sie sich in dem Badehaus der Hexe Yubaba, das für die Shinto-Göttter und -Geister ein Erholungsort darstellt, eine Arbeit beschaffen kann. Hierfür soll sie zunächst den achtarmigen Kamajii im Heizkeller der Erholungsanstalt aufsuchen. Auf diese Weise beginnt Chihiros geheimnisvolle Abenteuerreise, die von skurrilen und gefährlichen Göttern, dem Drachenjungen Haku, in den sie sich verliebt und von verfeindeten Hexenzwillingen erzählt. Zunächst entmutigt, entschließt sich Chihiro ihre Eltern zu retten.
Auffallend ist in Chihiros Reise ins Zauberland vor allem das Spiel mit Doppelungen, das entweder durch zweifache Identitäten (Haku als Junge und Drache), Verwandlungen (Chihiros Eltern) oder durch die Existenz einer Zwillingsschwester. Diese Dopplungen verweisen auf die Dualität der Welt in der wir leben, was sich durch verschiedene Gegensatzpaare wie Vernunft/Gefühl, Bewusstsein/Unterbewusstsein etc. und eben Realität/Fantasie ausdrückt. Zudem raubt die Figur Yubaba bei der Vertragsunterzeichnung Teile aus den Namen ihrer Untergebenen – Haku, auch „Hayaku“ (百 =100) hat seinen richtigen Namen bereits vergessen. Bei Chihiro (im Japanischen mit zwei Kanji geschrieben) stiehlt die Hexe den Familiennamen (荻野, Ogino) und das Kanji 尋 aus ihrem Vornamen. Dadurch erhält sie den Namen Sen (千 =1000). Da nur die Beiden Zahlen als Namen haben, wird ihre außerordentliche Stellung innerhalb des Badehauses hervorgehoben.
Außerdem nimmt auch die japanische Religion Shinto („Weg der Götter“) einen wichtigen Platz in dem Fantasy-Anime ein, was bereits eingangs, in der realen Welt, durch winzige Shinto-Schreine angedeutet und später durch die Götter und Geister („kami“) direkt gezeigt wird. Diese Religion ist geprägt von einer Angst vor ritueller Verunreinigung („kegare“), der bei einem Eintritt nur noch durch eine rituelle Waschung („misogi“) bzw. durch eine Reinigungszeremonie („harae“) begegnet werden kann. Ansonsten würde der Zorn der Geister und Götter auf den Verunreinigten herabfallen. Die Parallelen zum Film sind offenkundig, da der Handlungsort eine Badeanstalt für die kami ist.
Während in Prinzessin Mononoke noch unverhohlen Kritik an der Umweltzerstörung angebracht wurde, geschieht dies im Nachfolgefilm in leiseren Tönen, ja fast auf subtile Weise: Ein scheinbarer stinkender und modriger Faulgott entpuppt sich als Flussgott, der menschengemachte Müll, den er hinterlässt, verweist auf die Verunreinigung von Flüssen.
Die Optik wirkt in Chihiros Reise ins Zauberland gegen Prinzessin Mononoke künstlerisch-technisch perfektioniert, wodurch meines Erachtens aber auch ein gewisser Charme verloren geht. Insgesamt ist der gut 2 Stunden lange Film inhaltlich auch erheblich „kindgerechter“ gestaltet als der unmittelbar vorangegangene Anime von Miyazaki, weshalb er nach meiner Ansicht einen Bruchteil hinter Prinzessin Mononoke zurückfällt, gegen andere Animations- oder Zeichentrickfilme aber immer noch durch seine Einfühlsamkeit und vielschichtige Charakterzeichnung besticht. Beim Publikum ist jedenfalls Chihiros Reise ins Zauberland erfolgreicher gewesen, was auch durch die Verleihung eines Oscars zum Ausdruck kommt.
Chihiros Reise ins Zauberland in einem Special über Studio Ghibli vorzustellen, das ist in etwa so, als würde man einem Vegetarier von den Vorzügen von Tofu berichten: Wer auch sich auch nur ansatzweise für das japanische Animationsstudio interessiert, kennt das Abenteuer der kleinen Chihiro bereits. Warum wir ihm dann dennoch Teil acht widmen? Zum einen wäre das Special einfach nicht komplett ohne den erfolgreichsten, für viele auch besten Film des Studios. Außerdem sind zehn Jahre nach dem deutschen Kinostart vergangen, ein willkommener Anlass, sich von den sonderbaren Kreaturen und der märchenhaften Geschichte verzaubern zu lassen.
Der deutsche Titel weckt sicher nicht ungewollt Erinnerungen an „Alice im Wunderland“. Wie im großen Kinderbuchklassiker folgen wir hier einem Mädchen, die titelgebende Chihiro, das per Zufall in einer Welt landet, die unserer ganz nah und doch völlig anders ist. Was bei Lewis Carroll der Kaninchenbau ist hier ein Tunnel, der als Verbindung zwischen den beiden Welten dient, dem Japan von heute und dem sonderbaren Reich, das von der Hexe Yubaba beherrscht wird. Anders als bei Alice ist hier aber von Anfang an klar, dass dieses Zauberland nicht minder real ist als Chihiros Heimat. Denn auch deren Eltern sind bei dieser Reise dabei, mehr noch, sie sind sogar daran schuld.
Schon als Chihiro vor dem Tunnel steht, den Wind spürt, der sie hineinzieht, ahnt sie, dass man da besser nicht hin sollte, auf die andere Seite. Den Eltern hingegen ist das egal, so wie sie allgemein als nicht sonderlich zartfühlend dargestellt werden. Dass die Tochter unglücklich über den Umzug ist, darüber ihre Heimat und die Freunde zurücklassen zu müssen, darüber sehen die beiden ebenso hinweg wie über ihre Furcht vor dem Tunnel. Doch zum Problem wird deren Einstellung erst, als sie auf der anderen Seite einen verlassenen Vergnügungspark finden und sich ungefragt an dem Essen bedienen. Zur Strafe werden die beide in Schweine verwandelt und Chihiros einzige Möglichkeit, sie zu retten, ist im Badehaus von Yubaba zu arbeiten, das ausschließlich für Götter gedacht ist. Zum Glück findet sie bei den Fabelwesen Unterstützer, darunter den mysteriösen Jungen Haku, für den sie bald Gefühle entwickelt.
Ein Kind, das durch einen Zufall eine fremde Welt betritt und dann über sich hinauswächst? Diese Rahmenhandlung verwendete Hayao Miyazaki (Das Schloss im Himmel, Mein Nachbar Totoro). Und auch die bekannten Themen erste Liebe (Kikis kleiner Lieferservice) sowie die Kritik an der Selbstsüchtigkeit der Menschen (Nausicaä aus dem Tal der Winde) finden hier wieder ihren Platz. Wie kommt es also, dass der Animationskünstler ausgerechnet mit diesem Film im Westen so populär wurde, beim Publikum und auch bei Kritikern (Oscar als bester Animationsfilm, Goldener Bär)? Ein Grund ist sicher, dass der direkte Vorgänger Prinzessin Mononoke zwar langsam, dafür umso stärker Eindruck hinterließ, und das eben nicht nur bei eingefleischten Animeanhängern. Mit dem Kult von Mononoke im Rücken war der Hype um das „neu“ entdeckte Animationsstudio also voll im Gange, als Chihiros Reise ins Zauberland startete.
Hinzu kommt, dass Miyazaki damals seinen kreativen Höhepunkt erreichte. Chihiros Reise ins Zauberland mag für langjährige Fans inhaltlich kaum etwas Neues geboten haben, dafür konnte der Japaner eine Art Best of seines bisherigen Werkens zusammenstellen und sich bei der Gestaltung nach Belieben austoben. Allein die Gestaltung der unterschiedlichsten Gottheiten, Dämonen und Geister ist eine Wucht, so wie die Optik allgemein ohne Tadel ist. Auffällig ist, dass der notorische Gegner von Computergrafiken sich hier doch ein wenig von der Technik unter die Arme greifen ließ. Doch der Einsatz des Rechners ist so selten und so harmonisch mit den Handzeichnungen verbunden, dass diese Sequenzen kaum auffallen.
Gibt es überhaupt Kritikpunkte? Kaum. Manch einer wird die düsteren Elemente vermissen, die in Prinzessin Mononoke noch so zahlreich waren und den Animationsfilm von den meist kinderfreundlichen Verwandten aus dem Westen unterschieden. Was ebenfalls fehlt, ist die Darstellung des Alltäglichen. Wurden gerade bei Kiki und Totoro die fantastischen Elemente mit dem authentischen Umfeld von Kindern verknüpft, wird hier Letzteres zwangsweise über Bord geworfen. Als Folge ist Chihiro weniger Identifikationsfigur als ihre Vorgänger, kein Mädchen, mit dem man tatsächlich mitfühlen kann und das den jungen Zuschauern aus der Seele spricht. Wer aber beides nicht braucht, weder das Düstere, noch das Alltägliche, darf in eine märchenhafte Welt eintauchen, die jung und alt gleichermaßen verzaubert, wunderbar gezeichnet ist und voll sonderbarer aber liebenswerter Figuren steckt.
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