(„Pierrot le fou“ directred by Jean-Luc Godard, 1965)
Eine weitere Zusammenarbeit von Jean-Luc Godard mit Jean-Paul Belmondo (Außer Atem), an dessen Seite die zeitweilige Ehefrau Godards Anna Karina (Die Außenseiterbande) vor der Kamera steht. Elf Uhr nachts lautet der Titel der losen Romanadaption eines Kultkrimis von Lionel White. Die Arbeit markiert im Schaffen des französischen Ausnahmefilmemachers einen Wendepunkt, von dem aus Godard einen konsequent surreal-experimentellen Weg gehen wird.
Der Pseudoschriftsteller Ferdinand Griffon alias „Pierrot“ (Jean-Paul Belmondo) fühlt sich in seinem kleinbürgerlichen Leben eingezwängt. Angefacht durch eine Begegnung mit seiner ehemaligen Geliebten Marianne Renoir (Anna Karina), lässt er von einen auf den nächsten Augenblick alles stehen und liegen und verlässt seine Familie. Daraufhin werden die beiden in einen Mordfall verwickelt, weshalb sie auf der Flucht vor der Polizei und algerischen Killern nach Südfrankreich fliehen. Auf ihrem Trip an die mediterrane See leben die beiden in den Tag hinein, Ferdinand schreibt an einem Tagebuch und liest Romane. Marianne verschwindet daraufhin auf eine Mittelmeerinsel. Erst Wochen später trifft Pierrot in Toulon wieder auf Marianne, die dort bei einem Liebhaber, der Waffenschmuggler ist, lebt. Marianne will Pierrot erneut zu einer gefährlichen kriminellen Aktion überreden.
Elf Uhr nachts erinnert mit seinen bunten Collagen an einen Comic. Godard verwendet Aufnahmen von Plakaten und Leinwänden und spielt mit Kontrasten und Verzerrungen: In einer Szene laufen die grandios spielenden Akteure an einem Waldabschnitt vorbei, der vor einem weißen Hintergrund abfotografiert wird. Oder in einer anderen Szene entdeckt Belmondo einen durch eine Schere getöteten Algerier. Hier hält Karina die Mordwaffe in ein Weitwinkelobjektiv. Genretechnisch vereint Elf Uhr nachts Elemente aus dem Gangsterfilm und dem Musical. Darüber hinaus verwendet Godard Versatzstücke aus der Antikriegsagitation und verweist auf die amerikanische Populärkultur sowie auf den französischen Schriftsteller Honoré de Balzac und den irischen Schriftsteller James Joyce.
Inhaltlich geht es eindeutig im die innere Zerrissenheit der Protagonisten. So spielt Belmondo einen materialtisch veranlagten Ehemann, dessen Lebensentwurf durch Karina zusammenbricht. Hier stehen sich antagonistische Prinzipien in personifizierter Form gegenüber: Hier der nach Erkenntnis dürstende Mann, der (Bücher) haben will, und dort die lebensbejahende Frau, deren Wünsche sich ausschließlich im Sein ausdrücken. Dies drückt sich beispielhaft in einer Szene aus als sich die beiden wegen den geringen gemeinsamen Finanzmitteln streiten: Karina hat sich eine Pop-Schallplatte gekauft, worüber Belmondo erzürnt ist, da er nur hochgeistige Literatur als kaufenswert empfindet. Auf diese Weise ist der Film eine uralte Erzählung von den Geschlechtern, aber auch von der kompromisslos emotional gesteuerten Liebe, die im krassen Gegensatz zur Vernunftehe steht, was als Hommage an die Romantik gewertet werden kann – oder auch nicht, wenn man den Schluss betrachtet.
Der Regisseur Samuel Fuller (The Big Red One) gibt in seinem Cameoauftritt mit einem vielzitierten Satz die Essenz von Elf Uhr nachts wieder:
Film is like a battleground: love, hate, action, violence, death. In one word: emotion
Der surreale Gangstertrip gibt in vielschichtiger Weise das künstlerische Selbstverständnis Godards zum Besten: Er stellt ein Diskurs über Kunst an sich dar, über ihre Ausdrucksweisen und Motive. Das schafft der französische Autodidakt in opulenten, zynischen, tragisch-komischen, literarischen und philosophischen 110 Spielfilmminuten.
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