(„Inception“ directed by Christopher Nolan, 2010)
Kaum ein anderer Regisseur vermag derart perfekt Mainstream und Kunstkino zu verbinden wie Christopher Nolan. Nach dem grandiosen kommerziellen Erfolg von The Dark Knight hat ihm Warner Bros. das nötige Kleingeld (160 Millionen Dollar) zusammengelegt, damit sich der Filmemacher seine zehn Jahre alte Idee verwirklichen kann. Nur der Comicadaption hat es Nolan also verdanken, dass er sich seinen Traum erfüllen kann ohne dabei künstlerische Kompromisse eingehen zu müssen. Herausgekommen ist dabei eine handwerklich perfekte Inszenierung von Kommerz- und Autorenkino, die bestmöglichste Verschmelzung der gegensätzlichen Pole.
Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) ist ein begnadeter Dieb, der beste auf dem Gebiet der „Extraction“, einer subtilen Form des Gedankenraubs. Cobb stiehlt wertvolle Geheimnisse aus den Tiefen des Unterbewusstseins, wenn der Verstand am verwundbarsten ist: während der Traumphase. Dank seiner außergewöhnlichen Begabung ist Cobb innerhalb der Industriespionage einerseits ein gefragter Mann. Aber andererseits ist er auch ein international gesuchter Verbrecher, der seine Kinder (Claire Geare und Magnus Nolan) nicht besuchen kann, weil er wegen dem Mord an seiner Frau Mal (Marion Cotillard) ständig auf der Flucht ist.
Da kommt der riskante und nahezu unmögliche Auftrag von Saito (Ken Watanabe) als letzter Strohhalm: er muss beim Konzern-Erben Fisher (Cillian Murphy) eine sogenannte „Inception“ durchführen, also das genaue Gegenteil einer „Extraction“. In diesem Fall wird kein Geheimnis entwendet, sondern eingepflanzt. Hierfür stellt Cobb ein Team von Experten an: Arthur (Joseph Gordon-Levitt) ist der Koordinator, der die Abläufe strukturiert, Ariadne (Ellen Page) die Architektin der detailreichen Traumwelten, Eames (Tom Hardy) der Fälscher, der im Traum die Gestalt bestimmter Person annimmt, und Yusuf (Dileep Rao) der Chemiker, der ein starkes Sedativ mixt, um die Gruppe in den Traum zu führen. Saito will als Auftraggeber selbst mitkommen und erlebt wie das Team auf unvorhergesehene Probleme stößt.
Der Science-Fiction-Heist-Film markiert inzwischen die siebte Arbeit Nolans, der gleichzeitig auch das Drehbuch verfasst hat und zusammen mit seiner Ehefrau Emma Thomas die Produktion übernommen hat. Nach The Following, Memento, Insomnia, Batman Begins, The Prestige und The Dark Knight kann der Filmemacher bereits auf ein beeindruckendes Oeuvre und eine steigende Weiterentwicklung zurückblicken. In Inception vereint er die verschachtelte Erzählweise aus Memento mit der perfekten Illusionskunst aus The Prestige und vervollständigt die komplexe Story mit Blockbuster-Elementen wie in den Batman-Verfilmungen.
Neben dem geradlinigen Science-Fiction-Heist-Strang verlaufen gleichzeitig noch entwicklungspsychologische oder philosophische Nebenstränge, die auf die Themen Liebe, Tod, Schuld, Vaterkomplex und Abschied eingehen. In erster Linie geht es aber natürlich um eine Science Fiction-Idee: die Manipulation des Verstandes durch das Einnisten eines Gedanken. Der Gedanke, so Nolans Grundidee, wäre stärker und resistenter als Bakterien oder Viren und einmal festgesetzt würde er sich seinen Weg ebnen bzw. sich fortpflanzen.
Das Gedankenexperiment wird in eine Geschichte verpackt, die mit Actionszenen und Filmzitaten (z.B. James Bond oder Die Bourne Verschwörung) angereichert werden. Komischerweise erhalten die oftmals völlig übertriebenen Szenen in der Traumwelt eine neue Form der Authentizität, weil im Traum ja alles möglich ist. Die oftmals gerügte Action ist natürlich prinzipiell unnötig für die Idee, aber sie überwuchert das Gedankenexperiment auch nicht wie vielerorts in den Medien kritisiert wurde. Vieles an der Traumwelt-Idee erscheint nicht unbedingt neu: Filme wie Matrix oder Vergiss mein nicht! lassen grüßen. Trotzdem erschafft Nolan ein bis dato ungekannte ausgeklügelte Darstellung des Themas.
Die Schauspieler können allesamt überzeugen. DiCaprio spielt einmal mehr überzeugend einen willensstarken, komplexen Charakter, der wie bereits in Shutter Island auch sein eigenes dunkles Geheimnis verbirgt. Die noch junge und ausstrahlungsstarke Page dient nicht nur als Guide für den ansonsten überforderten Mainstream-Zuschauer, sondern darf DiCaprio auch als psychologische Krücke zurück auf die Beine verhelfen. Ihren Namen wird man in Zukunft wohl noch öfter lesen. Neben den üblichen Nolan-Cast (z.B. Michael Caine oder Murphy) überrascht bei den Neulingen vor allem Cotillard, die in der ambivalenten Nebenrolle eine gute Figur macht.
Das große Manko des Films ist die Musik. Hans Zimmers Score ist handwerklich natürlich wie gehabt einwandfrei und würde durchaus überwältigen. Aber der Audio-Dauerbeschuss – keine Minute des Films ist ohne Musik untermalt! – raubt den letzten Nerv und stört das Eintauchen in die Filmwelt erheblich. Gute Filmmusik ist akzentuiert und pointiert. Hier hat Nolan (?) in Inception einen Schönheitsfehler hinterlassen, der leider nur schwer ignoriert werden kann. Mit der Zeit sträubt sich einfach alles gegen die mit Gewalt gefühlserzeugende musikalische Untermalung. Aber wer weiß, vielleicht war auch das nur ein stilistisches Mittel?
Mit Inception hat Nolan wie in seinen Batman-Adaptionen zuvor eine kongeniale Mischung aus Kunst und Kommerz geschaffen. Mit seinem offenen Ende nach 148 Minuten Laufzeit tut er seinen Mainstream-Zuschauern auch keinen Gefallen. Die endgültige Auflösung seines Kinorätsels gibt es nicht! Dass diese trotzdem in Scharen in die Kinos strömen und nicht gleich sofort wieder scharenweise rausgehen liegt daran, dass er den Popcorn-Zuschauer behutsam in der ersten Hälfte des Films mit seinem nicht konsequent logischen Universum vertraut macht. Danach muss jeder selbst schauen, wie mit dem Konstrukt aus Realität und Traum zurechtkommt. Der ungewöhnliche Verzicht auf rationale Erklärungen tut sehr gut und lässt mehr Raum für die eigene Phantasie. Die Action ist gleichzeitig Zitat und Persiflage auf das Genre. Inception ist schließlich mit das Beste, was Hollywood in Punkto Food for Thought in populärer Form zu bieten hat. Interressant wäre es jetzt noch herauszufinden, wieviel Nolan in Inception steckt. Sind die Figuren letztlich nur Projektionen des Drehbuchautors? Wieviel von dem Vater-Sohn-Dilemma ist autobiographisch?
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