(„スチームボーイ, Suchīmubōi“ directed by Katsuhiro Ôtomo, 2004)
22 Millionen Dollar! Wer immer schon einmal sehen wollte, wie sich soviel Geld buchstäblich in Dampf auflöst, der sollt sich den Anime Steamboy anschauen. Denn, wie der Titel bereits andeutet, geht es da um ganz viel Dampf. Für die bis dahin teuerste japanische Anime-Produktion hat der Regisseur Katsuhiro Ôtomo nicht nur zehn Jahre in Anspruch genommen, sondern auch eine Mischung aus zwei- und dreidimensionalen Grafiken unter Einsatz der allerneuesten Digitaltechnologie verwendet. 180.000 Zeichnungen und 400 CG-Schnitte kommen auch noch dazu. Jedem Filmemacher sein Avatar! Mehr fällt einem zu so viel erschlagender Superlative nicht mehr ein.
Nachdem der japanische Erfolgsregisseur mit Akira (1988) die westliche Welt für den Manga und den Anime begeistern konnte, hat er seither durch Arbeiten wie Memories (1995) oder Robotic Angel (eigentlich Metropolis; 2001) seinen Ruf als SF-Spezialist manifestieren können. Steamboy spielt in England zu Königin Victorias Zeiten und imaginiert technisch-utopische Erfindungen, die mit Dampf angetrieben werden. Damit sind grob verkürzt auch die beiden Merkmale erfüllt, um Ôtomos Anime zum SF-Subgenre „Steam Punk“ zuzuordnen.
In einer alternativen Historie bekommt der außergewöhnlich begabte junge Erfinder Ray Steam 1866 von seinem Großvater Lloyd eine geheimnisvolle Metallkugel, die neue Energieform gespeichert hat. Mit Kraft dieser innovativen Energie kann eine ganze Nation versorgt werden. Die Wunderkugel wird zum Objekt der Begierde. Auf der einen Seite steht die Waffenfrima O’Hara, für die Rays Vater Edward arbeitet und die von der arroganten jungen Scarlett geleitet wird und auf der anderen Seite steht der britische Ingenieur Robert Stephenson, dem Ray die Kugel aushändigen soll. Die Fäden laufen in der ersten Weltausstellung in London zusammen und Ray muss sich entscheiden, wem er vertraut.
Sowohl das Szenario als auch die Handlung und die Charaktere können als Verneigung vor Jules Verne angesehen werden. Der französische SF-Vorreiter hat mit seinen „Voyages Extraordinaires“ die Vorlagen für Steamboy geschrieben. Wie sein Vorbild wartet auch Ôtomo mit immer noch sensationeller werdenden technischen Erfindungen auf. Wie in Vernes Klassikern findet man auch in Steamboy den faust‘schen Wissenschaftlertyp, der zum Wohl des Fortschritts die Moral vergisst. Und darum dreht sich der Film auch inhaltlich: um die (ethisch) einwandfreie Interpretation von Wissenschaft. Ray schwebt zwischen der anfänglichen Technikeuphorie und einem durch kriminelle und kriegerische Ausnutzung der Erfindungen revidiertem Technik- und Wissenschaftsbild.
Wenn man also die oberflächlichen Charaktere und die vorhersehbare Handlung abzieht bleiben als Essenz dieser Wissenschaftsdiskurs und ein detailverliebtes Szenario übrig. Jedes Fachwerkhaus mit seinen Inneneinrichtungen und die unzähligen mechanischen Erfindungen sind derart detailliert, dass es als natürlich erscheint, dass Ôtomo Zeit, Kraft oder Lust mehr übrig hatte, um eine überzeugende Geschichte zu schreiben. Aber das kennt man bereits aus Robotic Angel: visuelle Grandezza bei enttäuschender Story. Die Ästhetik hat es aber tatsächlich in sich und kann nicht nur mit nie gesehenen Schwenks und Zooms punkten, sondern besticht vor allem durch ein stimmiges, homogenes Gesamtbild.
Nach 121 Minuten ist die Mischung aus Jahrmarkt und Weltausstellung dann auch wieder vorüber. Der dts-Digital Surround bringt die unauffällige Musik von Steve Jablonsky gut rüber. Als Extra gibt es in der Doppel-DVD-Variante (Director’s Cut) eine ausführliche Filmdokumentation, die unter anderem aus einem Making Of, einem Interview mit dem Regisseur, einer Multi-Screen Landschaftsstudie sowie Produktionszeichnungen besteht. Ôtomo liefert eine detailgetreue Blockbuster-Produktion ab, die sich mit den Realfilmen eines Roland Emmerich oder Steven Spielberg durchaus vergleichen lässt. Vor allem (Retro-)Technikliebhaber, SF-Nerds und Blockbuster-Zuschauer könnten dem Film vielleicht etwas abgewinnen. Dem Rest kann bei Interesse an Anime-Filmen (mit Tiefgang) nur ein Verweis auf die Studio Gibli-Filme gemacht werden.
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