(„J’ai tué ma mère“, Xavier Dolan, 2009)
Xavier Dolan ist ein Name, den sich jeder Fan guter Filme merken sollte. Dolan schrieb mit 17 Jahren das Drehbuch zu J’ai tué ma mère, um es zwei Jahre später auf dem Regiestuhl zu verfilmen und dabei ließ er es sich nicht nehmen, gleichzeitig noch die männliche Hauptrolle zu übernehmen. Wohlgemerkt: im Alter von 19 Jahren. Das Besondere an dieser Vielfalt ist, dass Dolan all diese Aufgaben mit Bravour gemeistert hat und sein Erstlingswerk gehört zu den stärksten kanadischen Filmen der letzten Jahre. Es soll gleich an dieser Stelle allen Freunden mehr oder weniger anspruchsvollen Kinos wärmstens ans Herz gelegt werden. Erzählt wird nicht etwa die Geschichte eines Mordes an einem nahen Familienmitglied, sondern die Beziehung zwischen dem 16jährigen Hubert und seiner allein erziehenden Mutter (Anne Dorval). Das Verhältnis ist seit Jahren sehr angespannt und beide Parteien verletzen sich tagtäglich mit respektlosen Gesten und rüden Worten, die den Zuschauer ebenso wie die Person(en) auf der Leinwand aufgrund des Realismus ins Mark treffen.
I Killed my Mother ist hierbei jedoch nicht etwa ein Film für all jene, die ihre Mutter verabscheuen, sondern generell für alle Gruppen gut geeignet, denn wie in jeder Mutter-Kind Beziehung gibt es auch hier zärtliche Momente und jeder Mensch kennt die Auseinandersetzungen mit den eigenen Eltern, sodass jeder in der Lage sein sollte, diesen Film emotional mitzuerleben. Drastische Momente der Konfrontation werden gefolgt von ruhigen Momenten der Entschuldigungen und Zärtlichkeiten, es ist ein ewiges Hin und Her wie in jeder Beziehung eines Teenagers zu seinen Eltern. Bei Hubert kommt erschwerend hinzu, dass er sich als homosexuell outet, seiner Mutter jedoch nichts davon erzählt und in einer der stärksten Szenen des gesamten Werks verleugnet Hubert das Leben seiner Mutter, indem er seiner Lehrerin vorlügt, sie sei gestorben und seinen Vater sehe er nie.
Xavier Dolan beeindruckt mit allem, was er tut: das Drehbuch ist klug, realistisch, berührend, erschütternd und humorvoll, als Regisseur hat er alle Figuren und Darsteller im Griff, seine eigene Porträtierung des Sohnes ist derart eindrucksvoll, dass man zu keinem Zeitpunkt davon ausgeht, Dolan spiele den emotional Vernachlässigten; er ist diese Person und aufgrund dieser Glaubwürdigkeit entfaltet er eine unglaublich starke Leinwandpräsenz. Auch die Darstellungen der anderen Schauspieler – vor Allem die der Mutter, gespielt von Anne Dorval – sind hervorragend und äußerst glaubwürdig. Dolan verlangt von seinen Schauspielern alles ab: es wird gelacht, es wird viel geschrieen, die Charaktere brechen nervlich zusammen, es wird geweint.
Wäre dies alles, was diesen Film auszeichnet, hätte man bereits ein gelungenes Porträt menschlicher Beziehungen, doch Dolan geht noch einen Schritt weiter, experimentiert mit diversen Einstellungen und Tricks, arbeitet mit Handkamera, Rückblenden in schwarz/weiß (eine Hommage an die französische Nouvelle Vague im Einsatz von beängstigenden Close-Ups), Zeitlupen, Schwenks und Zooms, fügt Fantasiebilder seiner Hauptfigur ein, die gleichzeitig zum Lächeln, aber auch zum Nachdenken anregen. Bei derartig vielfältigen Experimenten läuft man stets Gefahr, zuviel in einen Film hineinzulegen und ihn zu überfrachten, doch Dolans Werk wirkt nie plakativ, künstlerisch angestrengt und dadurch übertrieben, sondern immer realistisch und bescheiden. Er hat ein hervorragendes Gespür für alltägliche Beobachtungen und wie man diese filmisch gekonnt umsetzt – ein perfektes Beispiel ist hierfür eine der ersten Szenen, in denen Dolan Nahaufnahmen vom Mund der Mutter filmen lässt, während sie ein Brot isst und der Streichkäse ihr an den Mundwinkeln hängen bleibt.
Es sind alltägliche Beobachtungen wie diese, die uns, wenn wir nervlich angespannt sind, aufregen können und hier wird bewusst mit derartigen Erfahrungen der Zuschauer gespielt, sodass sich jeder in diese Situation hineinversetzen kann und man teilweise den Eindruck hat, live dabei zu sein, sich in diesem Film zu befinden und dem Frühstück beizuwohnen – realer und beängstigender als in jedem 3D-Film. Xavier Dolan – und auch das ist positiv anzumerken – verurteilt jedoch niemandem in diesem Film oder macht einseitige Schuldzuweisungen, sodass dieses Werk nie als Racheakt oder Abrechnung zu werten ist.
Wenn Sie die Gelegenheit haben, diesen Film im Kino zu erleben, achten Sie darauf, wer von den Zuschauern in einzelnen Szenen lacht und es fällt Ihnen leicht, aufgrund dessen auf die Beziehung zwischen demjenigen und dessen Mutter zu schließen. Anspruchsvoll, deprimierend, realistisch und mit einem erstklassigen Gespür für die Charaktere sowie perfekten darstellerischen Leistungen erobert sich J’ai tué ma mère einen der vordersten Plätze in der Kategorie „Beste ausländische Independent-Filme 2009“.
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