(„Interiors“, Woody Allen, 1978)
Interiors ist Woody Allens intensivster Film. Ein Werk, das einen nicht leicht wieder los lässt, ist man erst in die bedrückende, deprimierende Atmosphäre eingetaucht. Es war der erste Film, in dem Woody Allen selber nicht mitspielte und gehört zusammen mit Eine andere Frau und September zu der Trilogie der bedrückenden Ingmar Bergman-Tribute des New Yorkers. Von diesen drei Filmen ist der hier nun besprochene der Beste. Ein Werk, das seinen Weg in die Reihung der besten Woody Allen-Filme längst gefunden hat. Hier erzählt er vom Zerfall einer Familie aus der Oberschicht, von inneren Kämpfen jedes Individuums mit sich selbst, von verhinderter Selbstverwirklichung, von der Unmöglichkeit, ein eigenes, glückliches Leben zu führen und dies mit der Rücksichtnahme auf andere zu vereinen.
Der Zuschauer lernt Eve (Geraldine Page) kennen, die Mutter dreier Töchter. Für den Beobachter ist sie das Problem, welches die Familie zerstört, doch je weiter der Film voranschreitet, desto deutlicher wird, dass es nicht die psychisch kranke Frau ist, die alle ins Unglück stürzt, sondern dass jeder für sein eigenes Unglück verantwortlich ist. Zunächst einmal gibt es die eine Tochter Renata (Diane Keaton), eine erfolgreiche Poetin mit Angstattacken, die zeitweise unter ihrem trinkenden, erfolglosen Mann, dem Schriftsteller Frederick (Richard Jordan) leidet, da dieser mit der Dominanz seiner Frau nicht klarzukommen scheint. Renatas Schwester Joey (Mary Beth Hurt) ist die kreative, aber talentlose Künstlerin in der Familie, die sich mit Kritiken und Fotografien versucht, aber in beiden Tätigkeiten keine Erfüllung findet.
Eine Welt bricht für sie zusammen, als sie erfährt, dass sie schwanger ist, da sie auf keinen Fall ein Kind großziehen möchte, im Gegensatz zu ihrem Lebensgefährten Michael (Sam Waterston). Joey droht zudem, an der Hassliebe zu ihrer selbstmordgefährdeten Mutter Eve zu zerbrechen, da sie als einzige ihrer Schwestern in der Nähe wohnt und sich so als Einzige ständig um die Mutter kümmern kann. Diese kann die Trennung von ihrem Mann Arthur (E.G. Marshall) nicht überwinden und redet sich stets ein, er würde zu ihr zurückkommen. All ihre Träume lösen sich in Luft auf, als sie erfährt, dass er eine neue Frau (Maureen Stapleton) getroffen hat, die er zu ehelichen wünscht. Zu guter Letzt gibt es noch die dritte Schwester, Flyn (Kristin Griffith), eine um die Weltgeschichte reisende Schauspielerin, die den Weg nach ganz oben nicht geschafft hat und so ihr Überleben durch Auftritte in Fernsehfilmen sichern muss.
Allens Film ist voller Symbolkraft, was bereits durch den Titel deutlich wird. Im Deutschen nicht in dieser Weise übersetzbar, bedeutet Interiors sowohl „Innenleben“ im seelischen Sinne als auch „Inneneinrichtungen“ bzgl. von Mobiliar. Im Film ist ständig von Inneneinrichtungen die Rede, wenn Eve Erfüllung in eben diesen sucht, als Klotz am Bein ihrer Familie stets Möbel verschenkt oder empfiehlt, mit denen etwa Joey nichts anfangen kann. Die neue Frau ihres Ex-Mannes, Pearl, ist schließlich die einzige, die Leben in die Familie bringt und davon spricht, das baldige gemeinsame Zuhause bis an die Decke üppig zu dekorieren. Es werden dem Zuschauer Bilder präsentiert, die er nicht schnell vergessen wird, so etwa die beeindruckende Einstellung von Pearl, die in tiefster Nacht im roten Seidenmantel den Strand entlangläuft, den von Schaumkronen umsäumten Wellen entgegen.
Ähnlich wie in anderen Allen-Filmen (siehe Ehemänner und Ehefrauen sowie Zelig) gibt es auch hier Szenen, in denen sich die Darsteller direkt an den Zuschauer wenden, als wohnen sie einer Therapiesitzung bei und versuchen, ihr Handeln zu erklären und ihre Psyche zu ergründen. Sie dienen als ständige Rechtfertigung, die den desolaten Zustand der Charaktere verdeutlichen und hier den größten Schritt vollziehen, der in einem Melodram möglich ist: der uneingeschränkte Seelen-Striptease direkt vor den Augen der Zuschauer. Wie auch in den anderen Hommagen an Bergman bei Allen ist auch hier die Kamera die meiste Zeit über komplett unbeweglich. Unbeweglich verharrt die Kamera, zunächst scheinbar ohne Fixpunkte, in kargen Räumen mit Personen, in denen kein Leben mehr zu herrschen scheint.
Interiors ist deshalb derart deprimierend, weil dieser Film Situationen beschreibt, die jeder kennt, da sie ein jeder von uns bereits erlebt hat. Der Wunsch, sich selbst zu erfüllen und seine Träume auszuleben ist ein ewiges Thema der Menschheit, doch oft wird es ein bloßer Wunsch bleiben, da er nicht vereinbar ist mit der Gesellschaft, mit der wir uns umgeben. Aus Rücksicht nehmen wir von den Träumen Abstand und nicht selten versinken wir deshalb in Unzufriedenheit. Die einzige Person im Film, die das tut, wonach sie sich sehnt, ohne auf die anderen Rücksicht zu nehmen ist die Mutter, die mehrere Suizidversuche unternimmt. Mit fünf Oscar-Nominierungen bedacht, ist der Film vor Allem wegen der grandiosen Darstellung Geraldine Pages sehenswert, eine gebrochene, gealterte Frau, die jeden Lebenswunsch verloren hat. Pages Porträtierung der kranken Mutter ist hierbei derart realistisch, dass man nur erschrecken kann, entdeckt man die verlorene Gestalt plötzlich mit halb verdecktem Gesicht in nahezu kompletter Dunkelheit, nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst.
Innenleben ist eine starke und unerbittliche Porträtierung seelischen Zerfalls, ernüchternd, deprimierend, kompromisslos in kräftigen Bildern mit großartigen darstellerischen Leistungen. Ein Film, der einen, hat man sich darauf eingelassen, gefangen nehmen wird.
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