(„Crimes and Misdemeanors“, directed by Woody Allen, 1989)
„Gott ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.“
Verbrechen und andere Kleinigkeiten ist einer der besten Filme von Woody Allen, ein schockierendes weil realistisches und unerbittliches Porträt über Menschen, die mit Moral und Religion kämpfen bei Entscheidungen, die ihr Leben verändern werden. Vielleicht gibt es nur eine Handvoll Filme, die böse Taten auszeichnen und gute Taten bestrafen und das ist es, was diesen Film unbeschreiblich zynisch und abgrundtief böse macht. Woody Allen erzählt in diesem Werk zwei Geschichten. Die eine handelt vom Augenarzt Judah Rosenthal, gespielt von Martin Landau (zu Recht mit einer Oscar-Nominierung geehrt), der seit zwei Jahren eine Affäre unterhält.
Seine Geliebte wird gespielt von Anjelica Huston, die nicht damit umgehen kann, dass Judah Schluss machen will. Sie droht ihm damit, sein ganzes Leben zu zerstören und da Judah nicht tatenlos zusehen will, fragt er seinen Bruder um Rat (Jerry Orbach aus Law and Order). Dieser rät ihm zu einem Auftragsmord und dies ist der Aufhänger für Judahs Reflexion über Moral und Religion. Er ringt tagelang mit sich selbst, spürt die stechenden Augen Gottes in seinem Nacken, kann aber nur zu einer Entscheidung kommen… . Die zweite Geschichte dreht sich um Clifford Stern, dargestellt von Woody Allen selbst, ein erfolgloser Independent-Filmemacher, der beauftragt wird, ein weich gezeichnetes Porträt seines schmierigen und ungeliebten Schwagers (Alan Alda) zu drehen. Nebenbei verliebt sich Stern in die hübsche Halley (Mia Farrow), die fühlt sich jedoch mehr und mehr von Cliffords Schwager angezogen…
Wie die anderen besten Filme von Woody Allen (Hannah und ihre Schwestern, Manhattan, Der Stadtneurotiker, Zelig) enthält auch dieses Werk zahlreiche psychologische Auseinandersetzungen und behandelt schwerwiegende Probleme über Moral, Religion und Ideale. Doch in keinem seiner anderen Filme wird mit diesen Themen derart schonungslos und brutal umgegangen. Auf den abgrundtiefen Pessimismus in Crimes and Misdemeanors angesprochen, entgegnete Allen einmal, er halte diesen Film nicht für pessimistisch, sondern lediglich für realistisch – das macht den Film derart schmerzhaft, wie er ist. Die erste Szene zeigt Judah Rosenthal, wie er ausgezeichnet wird, man ehrt ihn, man schätzt seine Stärken und guten Seiten, doch wie in jedem Menschen steckt auch in ihm ein Abgrund, schwarze Seiten, die man nicht ahnen möchte.
Im weiteren Verlauf wird der Zuschauer wie in einem Strudel in die Psyche Rosenthals katapultiert, man erfährt nicht nur seine tiefsten Gedanken, man weiß bereits, an was er denkt, bevor er es selber wagt, auch nur im Entferntesten daran zu denken. Martin Landau gibt als erfolgreicher Zahnarzt eine seiner besten darstellerischen Leistungen ab und Woody Allen nimmt sich unglaublich viel Zeit, nur Rosenthal zu zeigen, oft in Nahaufnahmen, vor dem Kamin sitzend oder im Badezimmer, wie er voller Verzweiflung über sein Schicksal nachsinnt und seinen atheistischen Standpunkt wie nie zuvor überdenkt und in Frage stellt. Überhaupt ist dieses Werk so religionskritisch wie kein anderer Film von Woody Allen, der hier auf Paradoxe in der Bibel hinweist und mit der typischen Schärfe in diversen Dialogen den Glauben ad absurdum führen will.
Aber auch hier wird er nie respektlos gegen Leute, die an einen Gott glauben und auch das zeichnet diesen Film aus. Er bleibt immer niveauvoll, Diskussionen contra Religionen geschehen auf einem rein intellektuellen Level, niemand wird verurteilt oder angegriffen. Wie in Der Stadtneurotiker wendet Woody Allen auch hier den Trick mit bestimmten Rückblenden an. Während Rosenthal über seine Kindheit nachdenkt, erscheint das Bild vor den Augen des Zuschauers, der, welcher sich gerade an diese Szenen erinnert, bleibt aber im Bild und mehr noch: seine Erinnerungen können ihn sehen und hören. Und wie in „Hannah und ihre Schwestern“ gibt es auch hier die Diskrepanz bei einem Künstler zwischen dem Ideal, dem künstlerischen Anspruch und der Notwendigkeit, sich zu prostituieren und widerwillig Aufträge anzunehmen, um Geld zu verdienen (übrigens auch ein zentraler Punkt in Bullets over Broadway).
Bei Woody Allen wird hier das Gute, das vernünftige Handeln bestraft, mündet in Unglück und Einsamkeit, während das Böse, das moralisch Verwerfliche mit Zufriedenheit und Glück belohnt wird. Verbrechen und andere Kleinigkeiten ist schockierend, weil man wie in nur wenigen anderen Filmen sonst die brutale und ungerechte Realität, das wahre Leben vor Augen geführt bekommt. Man erwartet es nicht, aber Allen unternimmt nie den Versuch, böse Taten abzuwenden oder bei seinen Charakteren Gnade walten zu lassen. Weil es im wahren Leben nicht so ist. Weil es keinen Grund gibt, das Leben in all seinen Facetten so abzubilden, wie es ist. Film und Leben sind schockierend, traurig, tiefsinnig, aber auch komisch, romantisch und vor allem eines: extrem unterhaltsam.
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