Der zehnte Tag

Der zehnte Tag

(„Ten Days Wonder“, Claude Chabrol, 1971)

„Warum ist das Böse hier schrecklicher als überall anders?“

Würde man mich fragen, einen Film pro Regisseur zu nennen, den man gesehen haben sollte, so wäre dies bei Claude Chabrol Der zehnte Tag, sein bestes, interessantestes und skurrilstes Werk. Es ist ein Film, der es schafft, einen von der ersten Einstellung an bis zum bitteren Ende zu fesseln und nicht mehr loszulassen. Der Zuschauer sieht eine Nahaufnahme von Anthony Perkins’ Gesicht, surreal verzerrte Einschübe von Mikroben, einem Oktopus, die den alptraumhaften Zustand deutlich machen, indem sich der verwirrte Mann befindet. Die Kameraperspektiven sind verzerrt, bewusst werden hier jegliche Regeln für den angehenden Kameramann über Bord geworfen, wenn Perkins’ Gesicht nur auf der sich spiegelnden Oberfläche des Hotelthresens abgebildet wird, die Kamera quer am Fuße einer Treppe liegt, während Perkins selbst orientierungslos umher sucht – begleitet von einer verstörenden, avantgardistischen Filmmusik von Pierre Jansen.

Die eigentliche Handlung des Films, nach einem Roman von Ellery Queen, ist hierbei stets sekundär, vielmehr geht es um die Beschreibung skurrilster Charaktere, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Perkins ist der junge Bildhauer Charles, der als Baby von Orson Welles adoptiert wurde. Welles hatte im Krieg ein Vermögen verdient, dann ein Mädchen namens Hélène (Marlène Jobert) adoptiert, welche er einige Jahre später heiratet. Innerhalb kurzer Zeit findet sich nun Adoptivsohn Charles mit blutverschmierten Händen und ohne Erinnerung in einem fremden Hotelzimmer wieder. Aus nackter Angst ruft er schließlich seinen alten Freund Paul (Michel Piccoli) an, der aufklären soll, was es mit den seltsamen Geschehnissen auf sich hat. Paul lässt sich dazu überreden, mit Charles für ein paar Tage ins Elsass in das Schloss seiner Eltern zu fahren. Dort entdeckt er Grausames…

Orson Welles sagt einmal im Film: „Sie befinden sich hier in einem Labyrinth.“ Besser ließe sich dieser Streifen wohl auch kaum beschreiben. Als Zuschauer irrt man orientierungslos umher, auf dem Weg aus dem Labyrinth hinaus stößt man immer wieder auf surreale Schreckensgestalten, vor denen man am liebsten weglaufen möchte, doch man kann es nicht, weil einen die gesamte Atmosphäre derart gefangen nimmt, dass man schnell merkt, wie aussichtslos die Situation ist. Es ist weniger ein Kriminalfall, der sich bald ausweitet, erpresserische, inzestuöse, gar diabolische Züge annimmt, denn vielmehr eine Charakterstudie, die von den ausgezeichneten Darstellern lebt – allen Voran der große Orson Welles, gefolgt vom geistig verwirrten und zu jeder Zeit überzeugenden Anthony Perkins.

Stilistisch greift dieses Werk bereits Elemente aus Chabrols Drehbuch zu Inspektor Lavardin und das Schloss der Gehenkten von 1990 vor, welches sich ebenfalls als mysteriöses und gespenstisches Kammerspiel mit undurchschaubaren Charakteren entpuppt. Der zehnte Tag ist straff inszeniert, ein intelligent konstruierter Kriminalfall, der es auf einmalige Weise schafft, den Zuschauer nicht aufgrund offensichtlicher, schockierender Entdeckungen zu fesseln, sondern aufgrund der Personen, die sich vor den Augen der Zuschauern seelisch immer weiter entblättern. Inzest, Mord, Erpressung, Religionsfanatismus sind die Themen, die hier an die Oberfläche treten und einen höchst unterhaltsamen, interessanten Filmabend garantieren. Großartige Schauspieler, experimentelle Kameraeinstellungen, ein gut durchdachter Plot mit vielen unerwarteten Wendungen, die den Zuschauer hinter das Licht führen, intensive Musik und psychologische Charakterstudien machen diesen Film zu einem Erlebnis.



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