(„12 Angry Men“, directed by Sidney Lumet, 1957)
”What are you so polite about?“
“For the same reason you are not: it’s the way I was brought up.”
Sidney Lumet hat drei unvergängliche Meisterwerke der Filmgeschichte geschaffen. Hundstage mit Al Pacino, Network mit William Holden und Die zwölf Geschworenen mit Henry Fonda – letzterer rangiert unter den Top 10 der besten Filme aller Zeiten in der Liste der International Movie DataBase (Stand: Dezember 2010). Der 2005 mit dem Ehrenoscar für sein Lebenswerk ausgezeichnete Regisseur beleuchtet hier die Wahrheitsfindung von zwölf vollkommen unterschiedlichen Menschen – ohne Gewalt, ohne Flüche, ohne Explosionen, schlicht in 90 Minuten Dialog.
12 Angry Men war 1957 das Spielfilmdebüt Lumets, gedreht mit einem sagenhaften Budget von nur 35.000 Dollars, wobei der größte Betrag sicherlich für das Aushängeschild Henry Fonda veranschlagt wurde. Davon abgesehen konnte man bescheiden sein, denn der gesamte Film spielt – abgesehen von einer kurzen Einleitung und einer kurzen Schlussszene – gleich einem Theaterstück in nur einem einzigen Raum. Dieser Raum ist jener, in dem sich die zwölf Geschworenen einfinden müssen, nachdem ein Prozess sein Ende gefunden hat. Die Aufgabe der Leute ist es nun, darüber zu entscheiden, ob der Angeklagte schuldig ist oder ob noch zu viele Lücken in der Beweislage zu finden sind.
In diesem Fall geht es um Mord. Der Angeklagte ist ein armer 18jähriger Amerikaner ausländischer Abstammung, aufgewachsen in der schmutzigsten Gegend. Er wird beschuldigt, seinen Vater, der ihn regelmäßig geschlagen hat, kaltblütig erdolcht zu haben. Dies belegen zwei Zeugenaussagen. Für elf Geschworene ist der Fall sofort klar, ohne dass eine Diskussion nötig ist – der Angeklagte ist schuldig. Nur einer der Geschworenen, die im Film alle keinen Namen haben, hat Zweifel an der Schuld des Jungen – Geschworener Nummer acht. Er beginnt, sich gegen die ungeduldigen Gegenstreiter zur Wehr zu setzen, indem er sie sachlich zu überzeugen versucht und sie so nach und nach auf seine Seite ziehen will…
Das dem Film zugrunde liegende Konzept der zwölf Geschworenen taucht in nahezu jeder Krimiserie mindestens einmal auf – mal mehr, mal weniger offensichtlich als Hommage an Lumets Klassiker, sei es in Mord ist ihr Hobby oder in Monk. Hier geht es jedoch nicht primär um den Kriminalfall, sondern darum, wie Fonda die anderen zu überzeugen versucht, wodurch sich eine hochinteressante Charakterstudie entwickelt, da jeder auf andere Indizien anspringt, die auf die jeweilige Persönlichkeit schließen lassen. Lumets Regiearbeit ist beeindruckend, denn er dringt fast unbemerkt in das Seelenleben seiner Figuren ein. Dies gelingt ihm durch Close-Ups der Kamera auf das Gesicht eines Geschworenen, während im Hintergrund der Fall weiter verhandelt wird.
Der Fall spielt jedoch in diesem Moment nicht die geringste Rolle, vielmehr erfährt der Zuschauer, woran die porträtierte Person in diesem Moment denkt, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort zu sagen braucht. Gesten oder Worte haben sie an bestimmte Erlebnisse aus ihrem Leben erinnert, denen sie nachhängen, von denen sie sich nicht lösen können. Auf diese Weise werden sie indirekt gezwungen, sich mit dem Fall näher zu beschäftigen, obwohl sie viel lieber zu einem Baseball-Spiel gehen wollen. In dieser Weise werden innerhalb von eineinhalb Stunden zwölf Menschen ohne Namen vorgestellt. Man kennt am Ende ihre wichtigsten Eigenschaften, da man gelernt hat, sie einzuschätzen. Die namenlosen Geschworenen werden gespielt von Gesichtern, die jeder Film- und Fernsehzuschauer zu einem Großteil kennt oder zumindest schon mindestens einmal gesehen hat, als da wären Jack Klugman (Quincy), Jack Warden (Bulworth), E.G. Marshall (Innenleben), Lee J. Cobb (Lawman) oder Robert Webber (Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia), von denen Cobb als aggressiver und oft aufbrausender Sadist sowie natürlich Henry Fonda als rationaler Architekt besonders hervorstechen und sich in diversen Wortduellen gegenseitig an die Wand spielen, sodass es eine Freude ist, ihnen dabei zuzusehen, wer die besseren Argumente vorzuweisen hat.
Die zwölf Geschworenen zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie leichtfertig über ein Menschenleben entschieden werden kann und wie leicht sich ein Mensch bei dieser Entscheidung von persönlichen Vorurteilen – bewusst oder unterbewusst – leiten lassen kann, sei es Rassismus oder tiefer liegende private Probleme. Das macht dieses Kammerspiel derart spannend: werden sich die anderen Geschworenen von Fonda überzeugen lassen? Wie werden sie sich überzeugen lassen? Was sind die Hintergründe für ihre Standpunkte? Was geht in ihnen wirklich vor? Wie beurteilen sie die anderen Geschworenen? Was bewirken verletzende oder beleidigende Worte der anderen? Die detaillierte Regieführung Lumets, die bravourösen schauspielerischen Leistungen aller Beteiligten, und die Lektion, niemals leichtfertig mit einem Menschenleben umzugehen machen diesen Film zu einem wahrhaft großen, zeitlosen Werk, welches zudem noch erstaunlich kurzweilig und in jeder Sekunde fesselnd ist.
(Anzeige)