(„The Naked Kiss“ directed by Samuel Fuller, 1964)
The Naked Kiss (1964) ist einer von Samuel Fullers Mutigsten. „Ein Film, nicht für die zimperlichen!“, wie der Trailer damals ankündigte. Und wer es geschafft hatte, bei dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Shock Corridor (1963) im Kino zu bleiben, fasziniert oder zu verängstig, eben jenes zu verlassen, der wusste: Bei Samuel Fuller ist das kein leeres Werbeversprechen, sondern Prophezeiung. „Film is like a battleground,“ sagte er über seine Profession, „with love, hate, action, violence, death….in one word, emotion.“ The Naked Kiss ist keine Ausnahme und schockiert auch heute noch über vierzig Jahre nach seiner Premiere. Der Film beginnt mit körperlicher Gewalt und endet in Horror—dazwischen liegt eine Geschichte über Schmerz, Hoffnung und Täuschung.
Bereits die erste Sequenz des Films ist 100 Prozent Fuller. Kelly (Constance Towers), eine Prostituierte, schlägt mit der Handtasche auf ihren Zuhälter ein; jeder Schlag, jeder Treffer gefilmt aus der Point-of-View Perspektive, in einer Zeit als Steadicams noch Zukunftsmusik waren (ein Assistent schnallte sich die Kilo-schwere Kamera auf den Rücken, während ein anderer ihn an der Hüfte festhielt, damit er nicht umkippte). Der Zuhälter stolpert durch das Appartement, hält sich die aufgeplatzte Lippe, bettelt um Gnade „Please, Kelly. I’m drunk. Please!“, doch sie schlägt weiter, hiebt wieder und wieder auf sein Gesicht ein, die kleine schwarze Tasche fest in beide Hände gekrallt. Im taumeln greift er nach ihren Haaren und dann: Die Perücke fällt, Kellys geschorener Schädel nimmt das Bild ein. Aus ihren weit aufgerissenen Augen lodert Scham und Hass, sie knüppelt härter auf ihn, treibt ihn vor sich her bis er endlich entkräftet zu Boden geht.
Es folgt eine Szene wie aus einem billigen Groschenroman, Kelly kniet sich zu ihrem Zuhälter herunter, nimmt eine Siphonflasche und spritzt dem Bewusstlosen Sodawasser ins Gesicht. Er soll sehen, was sie mit ihm vorhat. Aus seiner Jacke fummelt Kelly ein dickes Bündel Geldscheine hervor: „Eight hundred Dollars? You parasite!“, schlägt ihm die Geldscheine ins Gesicht und beginnt zu zählen: „Ten. Twenty. Thirty …“, wie ein Pokerspieler die Karten seines Royal Flush, hämmert sie jeden Schein einzeln auf seinen fetten Bauch, „Fifty. Sixty. Seventy—75 Dollars! I’m taking only what I earned.“ Dann verlässt sie das Appartement und die Kamera schwenkt auf einen Kalender. Es ist der 4. Juli, Unabhängigkeits-Tag für die USA und für Kelly. Ein Anfang wie die Titelseite der BILD-Zeitung: grob, dramatisch und emotional. Manche Kritiker würden sie seine „Signatur“-Szene nennen, sagt Fuller. „Bullshit!“, schließlich würde jede Szene, in jedem seiner Filmen seine Handschrift tragen.
Zwei Jahre später, es ist mittlerweile 1963, hält ein Bus in Grantville. Einer beschaulichen, All-American-Apple-Pie Kleinstadt. Ein großes Banner ist über die Hauptstrasse gespannt und kündigt eine Modenschau an für die behinderten Kinder des Grantville Orthopaedic Medical Center. Die Stadt ist nicht nur pittoresk, ihre Bewohner kümmern sich auch besonders um ihre Sprösslinge. Ebenso Kelly. Sie steigt aus dem Bus und gibt sogleich einem Baby im Kinderwagen die Buttel. Ihr knielanger Rock, die engelsblonden Haare und das sanftmütige Lächeln…ihre Vergangenheit scheint wie weggewischt, doch der Schein ist Masche. Sie landet mit Griff, dem Sheriff der Stadt, im Bett. Er bezahlt sie und erklärt im gleichen Moment, dass er in seiner Stadt keine Huren duldet: „This town is clean!“ Auf der anderen Seite des Flusses aber habe er eine Bekannte, Candy, die ein Freudenhaus leite. Dort könne sie bleiben und Arbeiten, er würde sie ab und an besuchen kommen, wenn es die Pflicht als Sheriff zulässt. Am nächsten Morgen wacht Kelly auf, wirft sie einen Blick in den Spiegel, erkennt was aus ihr geworden ist, und entschließt ein neues Leben anzufangen.
Es ist der Zeitpunkt im Film, an dem man annehmen könnte, Fuller beginne eine klischeebehaftete Prostituierte-wird-zu-Mutter-Teresa Story abzuspulen. Kelly zitiert Goethe, erklärt dem Sheriff, dass dort im Radio gerade Beethovens Mondscheinsonate geigt und nimmt tatsächlich eine Stelle im Grantville Orthopaedic Medical Center an. Im schneeweißen Schwesternkittel lacht und singt sie mit den Kindern, bringt einem behinderten Kind sogar das Gehen bei. Ihre Arbeit dort scheint Bestimmung zu sein. Doch so stereotypisch manche der Charakter in THE NAKED KISS auch sind, Fuller wäre nicht Fuller, wenn seine Story nicht bald eine andere, sehr viel düsterere Richtung einschlagen würde.
Es ist typisch Fuller, dass mit dem scheinbar vollkommenen Glück auch das Unheil ins Haus kommt; man bekommt nichts, ohne auch etwas zu verlieren. Während ihrer Arbeit im Kinder-Krankenhaus lernt Kelly den Philanthropen J.L. Grant (Michael Dante) kennen. Sie verlieben sich ineinander und Kellys Hoffnung auf ein neues Leben scheint zum Greifen nah. J.L. ist reich, angesehenes Gemeindemitglied von Grantville und Nachfahre der Gründerfamilie, auf dessen Namen die Kleinstadt zurückgeht. Kelly will einen reinen, sündenlosen Anfang und erzählt J.L. von ihrer Vergangenheit als Prostituierte. Grant schreckt dies nicht ab. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, von ihr Verstanden und die beiden entscheiden zu Heiraten. Was Kelly nicht weiß, ihr Verlobter hegt ein dunkles Geheimnis. Dass irgendetwas nicht stimmt, bemerkte Kelly bereits, als Grant sie zum ersten Mal küsste. Es war ein „Naked Kiss“, wie sie es beschreibt. Ein Kuss, dessen Geschmack sie von anderen Männern kennt. Männer, die alle die gleiche Eigenschaft aufwiesen: Sie waren pervers, hatten abnormale Neigungen. Doch Grants Balzbemühungen und ihr Traum nach einem guten Leben, lassen sie das ungute Gefühl vergessen. Von da an steuert The Naked Kiss geradewegs auf seinen Höhepunkt zu.
Der Zuschauer kann nur spekulieren, was Grant verheimlicht. Ein so jovialer, schöner, weltgewandter und einnehmender Mann, wo oder was könnte da schief gelaufen sein? Hat er eine Affäre, die Kelly das Herz brechen und zurück zu ihrem alten Gewerbe treiben wird? Ist Grant ein russischer Spion, Kriegsverweigerer, oder gar schwul? Oder hält der Film vielleicht doch ein „Happy-End“ für uns bereit, plant Grant den Umsturz eines kommunistischen Regimes in Südamerika und ist für Kelly ein Platz im Militärtransportflugzeug als Hochzeitsgeschenk reserviert? Alles Themen, die im konservativen Amerika der späten 1950er und 60er Jahre genug Sprengstoff oder Herzschmerz bereit gehalten hätten. Für Fuller aber war keins kontrovers genug. Die Bombe, die er im Plot verankert, ist (leider) so zeitlos wie schändlich. Sie explodiert so unvorhersehbar ein wie Leberhaken einschlägt und schnürt einem die Luft ab. Als wären Grants abscheuliche Taten nicht ausreichend, legt Fuller noch einen Tiefschlag drauf. Wie das Leben den Opfern, gönnt auch er uns keine Ruhe. Nachdem Kelly hinter das dunkle Geheimnis ihrer Verlobten gekommen ist, stellt sie ihn zur Rede. Grant fleht sie an, die Heirat nicht abzubrechen. Er bittet aber nicht um ihre Vergebung, sondern appelliert an ihr Verständnis. In seiner kranken Psyche ist er überzeugt, dass gerade sie ihn verstehen müsste, weil doch auch sie anders als die Anderen wäre:
GRANT
Now you know why I could never marry a normal woman. . . .
That’s why I love you . . . you understand my sickness.
You’ve been conditioned to people like me. . . . You live in
my world . . . and it will be an exiting world.
(er geht vor ihr auf die Knie)
My darling, our marriage will be a paradise
because we’re both abnormal.
Geschockt und angewidert macht Kelly das einzig richtig, sie greift zum Telefonhörer und verwendet ihn, wie sie am Anfang des Films ihre Handtasche gebrauchte. Diesmal jedoch kann kein Sodawasser der Welt den Mann am Boden wieder aufwecken. Viele Filme würden hier endlich zu einem friedlichen „Happy-End“ kommen. Samuel Fuller aber achtete immer darauf, dass seinen Filmen, bei allem nötigen Entertainment, nie der „Kern der Wahrheit“ verloren ging. Und so muss Kelly ihren steinigen Weg weiter gehen. Weder Polizei noch die Menschen um sie herum glauben ihr den Grund für ihre Tat. Sie muss ins Gefängnis. Erst später soll durch eine Zeugenaussage die Wahrheit ans Tageslicht kommen, und Kelly von den Bewohner Grantvilles als Heldin erkannt. Doch da ist Kellys Reise von außerhalb, in die Mitte der Gesellschaft, bereits vorbei, ihre Träume unwiederbringlich zerschmettert. Sie verließ den Dreck der Großstadt in der Hoffnung auf Erlösung und fand stattdessen Scheinheiligkeit, Perversion und Bigotterie.
Fuller wollte The Naked Kiss als Anklage gegen eine Engstirnigkeit wissen, die Hass und Intoleranz fördert. Angereichert mit einem fulminanten Plot-Twist als Höhepunkt, erreicht er sein anvisiertes Ziel nicht subtil, aber äußerst effektiv. The Naked Kiss ist ein beißender Kommentar auf die verlogene Mittelklassen-Moral der USA in den 1950er und 60er Jahren geworden. Die gelegentlich stereotypischen Charaktere unterliegen gerade wegen ihrer Transparenz keiner geschichtlichen oder engeren nationalen Verbundenheit, Fullers Anklage ist eine allgemeingültige. Wie fast alle seiner Filme ist auch The Naked Kiss eine zutiefst moralische Geschichte. Sie zeigt das Heuchlerische innerhalb unserer Gesellschaft und entblößt all jene als Lügner, die mit aufgesetztem Heiligenschein die Guten von den Sündern trennen wollen. Doch kein Mensch ist frei von Laster. The Naked Kiss ist in all seiner Überzeichnung so ehrlich, geradeheraus und überzeugend, wie es nur ein Samuel Fuller Film sein kann.
Info-Box: Für die makellosen B/W Aufnahmen war Stanley Cortez zuständig. Der auch bei Orson Welles Der Glanz des Hauses Amberson, Die Nacht des Jägers und Die Brücke von Remagen für die Kamera verantwortlich war.
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