Fahrraddiebe

Fahrraddiebe

(„Ladri di biciclette“, regia di Vittorio de Sica, 1948)

Stephan Eicke

“There’s a cure for everything except death.”

1950 erhielt Vittorio de Sicas Film Ladri di biciclette einen Ehren-Oscar als bester ausländischer Film, der 1949 in den Vereinigten Staaten in die Kinos kam. 1952 entschied eine Umfrage unter Filmemachern und Kritikern, dass dies der beste Film aller Zeiten sei. 2002, als die Umfrage wiederholt und vom „Sight & Sound“ Magazin abgedruckt wurde, landete der besagte Film auf Platz 6 der größten Meisterwerke, die jemals in die Kinos gebracht wurden. Fahrraddiebe hat eine ruhmreiche Geschichte hinter sich und bis heute von seiner Intensität nichts eingebüßt. Die Geschichte ist eine, welche die Zeit überdauert und an Brisanz nie zu verlieren scheint. Antonio Ricci (Lamberto Maggiorani) ist arbeitslos. Zusammen mit seiner Frau (Lianella Carell) und seinen zwei Kindern wohnt er in einer kleinen Wohnung in einer der schmutzigsten Gegenden Roms. Der zweite Weltkrieg ist vorbei, ein jeder kämpft um Arbeit, um Essen in den Magen zu kriegen.

Eines Tages scheint das Glück auf Antonios Seite zu sein, denn ihm wird ein Job als Plakatankleber angeboten. Ohne zu zögern nimmt er diese Arbeit an, die er für sehr gut bezahlt hält, um jedoch gesagt zu bekommen, dass er für diese neue Beschäftigung ein Fahrrad braucht. Ohne Fahrrad habe er keine Chance auf diesen Posten und müsse weiter um Arbeit bangen. Antonio hat Pech, denn sein Fahrrad musste er zuvor verkaufen, um seiner Familie Essen besorgen zu können. Er hat es seiner Frau zu verdanken, dass diese nicht lange überlegt und die Bettlaken ihres Ehebettes verkauft, um so für ein paar tausend Lire ein Fahrrad erstehen zu können, was es ihrem Mann ermöglicht, am nächsten Tag mit der Arbeit anzufangen und Geld nach Hause zu bringen. Dieser genießt seine neue Beschäftigung in der frischen, warmen Luft der italienischen Hauptstadt, bis ihm eines Tages das neue Fahrrad gestohlen wird. Der Dieb ist bald außer Sichtweite, die Polizei kann und will Antonio bei der Suche nach dem Fahrrad nicht helfen.

Um ein neues zu kaufen, ist er zu arm und keiner seiner Freunde ist finanziell dazu in der Lage, ihm Geld zu leihen. Doch sie helfen Antonio bei der Suche zusammen mit dessen Sohn Bruno (Enzo Staiola). Die Suche gestaltet sich schwieriger als gedacht und der Druck, der auf der jungen Familie lastet ist enorm, denn ein jeder weiß: die Suche nach dem zweirädrigen Gefährt ist nicht nur eine Expedition des Materiellen, sondern die Suche nach verlorenen Träumen, nach der Existenz, die mühsam erkämpft werden musste und nun wieder zu entgleiten droht. Das gestohlene Fahrrad wird zum Symbol für alle menschlichen Emotionen, die Antonio in sich fassen muss, der sich mit Hoffnung, Trauer, Wut und unbändiger Angst konfrontiert sieht.

Fahrraddiebe gilt wahrscheinlich als wichtigster Film des italienischen Neorealismus, der 1943 seinen Anfang fand. Neben Roberto Rossellini war Vittorio de Sica der wichtigste Regisseur dieser Epoche, welche die ungeschminkte Wahrheit im Italien jener Zeit zeigen sollte. Das Volk litt unter der Diktatur, Armut und Ausbeutung verschärfte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und in dieser Zeit findet Ladri di biciclette statt, ein Film als  Lebensgefühl der 40er Jahre, über die damalige Existenzangst und Arbeitslosigkeit, mit der sich das Volk konfrontiert sah. Oft hatte man nicht genug zu essen und musste seine Kinder hungern sehen, was dieser Film ungeschönt widerspiegelt und damit eine der traurigsten Geschichten erzählt.

Es ist dabei nicht nur die Aufzeichnung einer Odyssee, bei der es um alles oder nichts geht, es ist zudem das Porträt einer Vater-Sohn Beziehung, geschildert aus der Sicht des kleinen Jungen. Anhand von seinen Beobachtungen erfährt der Zuschauer, wie sich die Beziehung zwischen ihm und seinen Vater während der voranschreitenden Suche entwickelt und wie sich die Gefühle des Vaters gegenüber seinem Sohn und der Umwelt nach gewissen Erfahrungen wie Enttäuschung oder Hoffnung ändern. De Sica bietet diese ganze Palette an Emotionen, die er seine Charaktere durchleiden lässt, um die Auswirkungen ihrer Gefühle analysieren zu können.

Daraus ergibt sich eine sehr intensive Charakterstudie, die durch die Tatsache, dass alle Darsteller dieses Films Laien waren, nur verstärkt wird, denn man glaubt ihren traurigen Gesichtern, in denen man die Zerstörung all ihrer Träume buchstäblich ablesen kann, ohne dass viele Wörter fallen müssen. Es ist der Blick Brunos, der uns verrät, wie seine Umwelt auf ihn und er auf seine Umwelt reagiert. Am aussagekräftigsten ist hier wohl eine der stärksten Szenen des Films in einem Restaurant, in welchem Bruno verzweifelt mit einem Jungen am Nebentisch Kontakt aufzunehmen versucht. Doch dieser hat für den lumpig gekleideten Bruno nur einen geringschätzenden Blick übrig, während sich seine wohlhabende Familie eine große Flasche Champagner bestellt.

Der Realismus ist zweifellos die größte Stärke dieses Films, denn er zeigt jeden Menschen von uns in den beiden Hauptpersonen. Die schlimmste Lage, in der wir uns befinden, kann uns von Atheisten zu Gläubigen machen, indem wir verzweifelt um Hilfe schreien, so wie Antonio, der zu Beginn –  im Besitz eines Fahrrades – die Weissagerin verteufelt, später aber der Faszination dieser Frau nicht länger widerstehen kann, da er erfahren muss, ob und wann er sein gestohlenes Fahrrad wiederfinden wird. Antonio stiehlt ein Fahrrad, doch er wägt ab und verhilft dieser ungeschönten Moralstudie zu ihrem Recht. Wie die meisten Menschen biegt er sich die moralischen Positionen für sich selbst zurecht, denn in diesem Fall geht es um die Zukunft seiner Familie, die das Entwenden eines Fahrrades rechtfertigen würde. Schließlich würde Antonio das Fahrrad aus einem gewichtigeren Grund stehlen, als der Dieb seines Gefährts. Fahrraddiebe ist eine psychologische Studie. Emotional, spannend, aufwühlend, realistisch, deprimierend, intensiv und stets ehrlich.

Falko Fröhner

Anhand eines Fahrraddiebstahls verdeutlicht Regisseur Vittorio de Sica in seinem Film Ladri di biciclette die Entstehung von Kriminalität in der von sozialem Elend geprägten Gesellschaft des Nachkriegs- Roms. Nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit wird Antonio Ricci ein lukrativer Job als Plakatkleber, dessen Voraussetzung der Besitz eines eigenen Fahrrads ist, in Aussicht gestellt. Ohne zu zögern verkauft Antonios Frau Maria alle Betttücher der Familie, sodass ihr Mann sein Rad vom Pfandleiher zurück kaufen kann. Bereits am ersten Arbeitstag wird Antonio das Rad von einem jungen Mann gestohlen; eine verzweifelte Suche nach dem Dieb beginnt…

De Sicas Film, der zu Recht regelmäßig die vorderen Ränge von Listen der „besten Filme aller Zeiten“ belegt, ist ein Meisterwerk des italienischen Neorealismus‘. Die Tatsachen, dass Laiendarsteller, an deren herausragenden Leistungen sich so manche hochbezahlte zeitgenössische Hollywood- Schauspieler ein Beispiel nehmen können, in den Hauptrollen zu sehen sind und an Originalschauplätzen gedreht wurde, verleihen dem Film ein hohes Maß an Authentizität; die Aufnahmen der baufälligen Häuser, der erbärmlich eingerichteten Wohnungen und der Verbitterung in den Gesichtern der Menschen hinterlassen beim Zuschauer einen bleibenden Eindruck.

Ladri di biciclette weiß jedoch nicht nur auf „dokumentarischer“, sondern auch auf filmischer Ebene vollends zu überzeugen – gerade im grandiosen, zutiefst bewegenden Schlussbild beweist de Sica seine Meisterschaft als Regisseur. Außerdem unterstützt der Score von Alessandro Cicognini, der niemals zu dominant in den Vordergrund tritt, die dramatische Grundatmosphäre des Films auf ausgezeichnete Weise. De Sica gelingt es am Beispiel des Protagonisten Antonio, die (sozialen) Beweggründe eines Menschen zu verbrecherischen Handlungen zu durchleuchten und verweist somit auf die Wechselwirkungen von Kriminalität. Dem Zuschauer wird klar, dass es in einer solchen Gesellschaft kein „gut“ oder „böse“ gibt- ein jeder versucht, seine Familie und sich selbst am Leben zu erhalten. Hierbei ist anzumerken, dass Ladri di biciclette niemals moralisierend wird; vielmehr besteht die Intention des Films darin, es dem Zuschauer selbst zu überlassen, sich ein Bild über das Verhalten der Charaktere zu machen.

Gerade in unserer heutigen, von Massenkonsum und Wohlstand geprägten Gesellschaft ist es wieder an der Zeit, sich diesen Film anzusehen, da er uns mahnt, inwiefern ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand wie ein Fahrrad in anderen Gesellschaften für die Zukunft einer ganzen Familie entscheidend sein kann.



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