(„Hereafter“, directed by Clint Eastwood, 2010)
„It’s not a gift… it’s a curse.“
Böse Zungen könnten behaupten, Clint Eastwoods Hereafter sei lediglich eine bildhafte Darstellung der simplen und banalen Beobachtung, dass die Menschen dem Tod nicht entfliehen können. Eastwoods Film ist zwar ein wenig mehr als das, bleibt jedoch trotzdem eine recht oberflächliche Betrachtung dreier Menschen, die alle mit dem Tod konfrontiert werden – und alle auf verschiedene Art und Weise. Zuerst lernt der Zuschauer eine Französin (Cécile de France) kennen, die mit ihrem Geliebten Urlaub in Thailand macht. Eines Morgens macht sie sich auf zum Straßenmarkt, als sie von einem Tsunami überrascht wird, der hunderttausende Menschen töten wird.
Auch für sie sieht es nicht gut aus, denn sie wird von der Todeswelle fortgespült und von einem Auto, das ebenfalls mitgeschwemmt wurde, am Kopf getroffen. Sie droht zu ertrinken. Dies soll der Tag ihrer Wiedergeburt werden, denn wie durch ein Wunder überlebt sie, nachdem sie eine Nahtod-Erfahrung gemacht hat. Fast bereut sie es, dass sie den Tatort der Katastrophe verlässt, um zu sich zu kommen, ohne den anderen Opfern zu helfen. Sie versucht vor diesem Schicksalstag zu fliehen, genau wie sie dem Tod zu entfliehen versucht, indem sie nicht mehr mit ihm und ihrer Erinnerung konfrontiert werden möchte. Doch die Erinnerungen kommen immer wieder und mit ihnen Visionen aus dem Totenreich, über das sie bald ein Buch zu schreiben beginnt, worüber ihre Arbeitgeber wenig erfreut sind. Die Szenerie wechselt mehrmals, der Zuschauer lernt Marcus und Jason kennen, zwei englische Jungs, deren Mutter Alkoholikerin und drogenabhängig ist.
An dieser Stelle blitzt das Talent Eastwoods auf, das er in Gran Torino voll ausleben konnte: in nur wenigen Minuten zeichnet er ein gestochen scharfes Milieuporträt und vermag die Figuren innerhalb kürzester Zeit zu interessanten, runden Charakteren zu formen. Das Glück ist jedoch nicht mit dieser unglücklichen Familie, denn sie wird bald von einem Schicksalsschlag ereilt, der sie alle verändern soll. Die Perspektive wechselt. Matt Damon spielt einen Fabrikarbeiter, der einst als Medium tätig war, Visionen aus dem Afterlife empfangen kann und anderen Leuten, die Nachrichten ihrer verstorbenen Verwandten erhalten wollen, aus der Hand liest. Auch er versucht zu entfliehen, hat diesen Beruf aufgegeben und versucht nun, Erfüllung in einer Fabrik zu finden, um nicht länger mit dem Tod konfrontiert zu werden. Doch nach wie vor kommen Leute zu ihm, die seinen Rat wollen – er versucht sie abzuwimmeln, bis er eine attraktive Frau trifft, die an einer Beziehung zu ihm interessiert zu sein scheint. Doch das ändert sich, als er sich bereit erklärt, ihr aus der Hand zu lesen und auf einmal mehr über sie weiß, als ihr lieb is t…
Die Kritiker waren größtenteils sehr gnädig mit dem aktuellen Werk des Altmeisters. Von „Eastwoods Meisterwerk“ ist gar die Rede. Zweifellos schwingt darin der große Respekt vor dem Mann mit, der auch in hohem Alter noch meisterhafte Schilderungen wie Gran Torino schaffen kann. Nur gehört Hereafter“nicht dazu, obwohl einige positive Aspekte vorhanden sind. Die vielleicht intensivste Szene des ganzen Films ist die Kostprobe, die Damon mit seiner neuen Bekanntschaft während eines Kochkurses zu absolvieren hat. Die Kamera geht auf Nahaufnahme, ein erotisches Prickeln ist zu spüren, keiner der Figuren braucht etwas zu sagen und man weiß, dass die Münder sich küssen wollen, anstatt gegenseitig Essen aufnehmen zu müssen. Diese Atmosphäre wird brutal unterbrochen durch eine reißerische Vision des ehemalig praktizierenden Mediums, was die Lage, in der Damon sich befindet, gut deutlich macht. Fast unfähig, ein normales Leben zu führen, versucht er zu verdrängen, was er gesehen hat, versucht wieder, in die romantische Atmosphäre der Gegenwart einzutauchen, was ihm bald gelingt und doch ist ihm kein Glück beschieden.
Abgesehen von solchen Lichtblicken ist Hereafter jedoch eine herbe Enttäuschung, deren Hauptproblem die stets im Raum kreisende Frage ist, was einem diese Schilderungen sagen sollen. Denn die einzelnen Episoden der Figuren sind nicht sonderlich innovativ oder Aufsehen erregend. Ein kleiner Junge verliert seinen Bruder, wird dadurch mit dem Tod konfrontiert, kommt in eine neue Familie. Eine Frau mittleren Alters versucht, ein neues Leben zu beginnen, doch ihre Freunde wenden sich gegen sie. Ein Medium versucht, seinem Fluch zu entkommen. Eben jene Geschichten sind dem Cineasten bereits Dutzende Male geboten worden, oftmals interessanter und intensiver.
All diese Geschichten werden von Eastwood in einem Film zusammengeführt, jede Person erhält ein Drittel der Gesamtlaufzeit und das Dilemma wird deutlich, denn um die Laufzeit nicht zu sprengen wird es nicht möglich, derart tief in die Psyche einzutauchen, wie dies bei lediglich einer Episode mit einer Laufzeit von zwei Stunden der Fall wäre. Der Film bleibt oberflächlich und man kommt nicht umhin zu fragen, was Eastwood einem mit diesem Werk sagen wollte. Auf recht simple Art und Weise werden die drei Episoden gegen Ende schließlich verknüpft, um ein konstruiertes, albernes Ende herbeizuzaubern, das es zusätzlich schwer macht, diesen Streifen ernst zu nehmen und in der letzten Szene zu übertrieben süffiger Musik von Eastwood selbst zu einer kitschigen, verklärenden Soße verkommt.
Wer nun von Natur aus gegenüber Übernatürlichem wie einem Medium oder Visionen aus dem Jenseits skeptisch ist, wird an diesem Film wohl noch weniger Gefallen finden. Letztlich steht Hereafter einfach da, als Werk, das aus dem Leben dreier Menschen berichtet, die schließlich verknüpft werden. Insgesamt ein bescheidenes Konzept, das einen etwas ratlos zurücklässt. Was steckt hinter dieser Philosophie? Ist es eine Philosophie? Ist es für eine Philosophie nicht zu oberflächlich? Jene letzte Frage muss ich mit einem klaren „Ja“ beantworten. Was will einem dieser leidlich unterhaltsame Film sagen? Du kannst dem Tod nicht entfliehen, was auch immer du versuchst? Ist es nur ein Statement, dass Clint Eastwood an ein Leben nach dem Tod glaubt? Wenn ja, war es das wert, einen ganzen Film darüber zu drehen?
Die Diskussionen über ein mögliches Leben nach dem Tod sind – sinngemäß zitiert – so intensiv wie das folgende Gespräch, das im Film dargestellt wird: „Glaubst Du an ein Leben nach dem Tod?“ „Nein.“ (…) „Warum nicht?“ „Wenn es eins gäbe, gäbe es doch Beweise dafür.“ Vielleicht hätte es ein interessanter Film werden können, wäre er nicht so gefühlskalt wie gefrorene Butter, würde man mehr über das Seelenleben der Figuren erfahren, wäre er am Ende nicht derart parodistisch konstruiert und würde Matt Damon eine motivierte Leistung abgeben. Kritikerkollege Patrick Seyboth vom „Sonntagsblatt“ hat das treffend zusammengefasst: „Das Jenseits und die Toten erfüllen dabei nur die sehr irdische Funktion, den Lebenden die Angst zu nehmen und beim Leben zu helfen. Ein wirklich kluger Film müsste das hinterfragen, statt Sentimentalitäten zu füttern.“
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