Woran denkt ein Filmfan bei der Affäre um den Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg? An die Auswirkungen auf den deutschen Politikbetrieb? An den Schaden, den seine Person bekommen hat? Nicht im Geringsten, stattdessen stellt sich die Figur Guttenbergs wie der Prototyp einer Hauptfigur aus einem Claude Chabrol-Film dar. Der Fall eines Bourgeoisen. Ein Graf, adlig und mit Doktortitel, Spross einer angesehenen Familie, glücklich verheiratet, beliebt als Politiker und gern gesehen als Besucher von Rock-Konzerten, auf denen er mit cooler Lederjacke zugegen ist und jeden Bürger dieses Landes für sich einzunehmen vermag. Man muss diesen Menschen einfach lieben, wenn der „Spiegel“ satirisch zugespitzt von den „fabelhaften Guttenbergs“ berichtet. Die Spießer müssen ihn lieben aufgrund seiner Herkunft, seines schneidigen Äußeren und seines Doktortitels und die Bodenständigeren mögen ihn aufgrund seiner Volksnähe und seiner Anwesenheit auf oben erwähnten Konzerten. Doch der Fall dieser Figur ist tief. Bedauerlich, dass Claude Chabrol bereits verstorben ist, denn ansonsten hätte er vielleicht an eine Verfilmung dieses bunten Lebens gedacht – als Mischung aus alten Filmthemen, neu aufbereitet. Hauptaugenmerk ist dabei natürlich die Affäre um den aufsehenerregenden Doktortitel, auf den Guttenberg dermaßen stolz war.
Eines Nachmittags kommt er aus der Wohnung seiner Geliebten, die er soeben erwürgt hat wie Charles Masson in Vor Einbruch der Nacht. Dort trifft er auf seine Vorgesetzte Angela Merkel, die ihm berichtet, dass es Ärger gebe, da jemand ein Plagiat in seiner Doktorarbeit entdeckt hat. Guttenberg ist schockiert, nach den zwei Whisky ist ihm schlecht, er übergibt sich, er kann das alles nicht fassen. Eine abgeschriebene Stelle in seiner Doktorarbeit, denkt er sich. Wie ist das herausgekommen? Wie Charles Masson streift er sich seine Sonnenbrille über. Jemand muss Nachforschungen angestellt haben und er erinnert sich an die Affäre um die Gorch Fock, das Schiff, auf dem er mit dem Bruder seiner Geliebten unterwegs war wie Charles Thénier und Paul Decourt in Das Biest muss sterben. Dort hatte er versucht, diese Person aus dem Weg zu räumen, doch wie auch Charles Thénier hatte er versagt. Nun bekam er die Rechnung dafür auf dem Silbertablett serviert. Es musste etwas passieren. Eine simple Notlüge musste her, wie die von Hélène Désvalles aus Die untreue Frau, wenn sie ihrem Gatten verschweigen will, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hat, anstatt in Paris bummeln zu gehen. „Die Vorwürfe sind abstrus, ich habe nicht abgeschrieben“ wie Anthony Perkins in Der zehnte Tag nicht begreifen kann und will, dass er für das Blutbad in dem Hotelzimmer verantwortlich ist, in dem er eines Tages aufwacht. Doch man beginnt mit den Ermittlungen, das Ansehen Guttenbergs, des tadellosen Bourgeoisen hat bereits erste Kratzer genommen. Man beginnt immer mehr Spuren zu finden, wie Hélène Regnier in Der Riss letztlich herausfindet, wer hinter dem Komplott steckt, das ihr Leben zu zerstören droht. 120 abgeschriebene Textstellen werden gefunden.
„Es sind ein paar Fehler passiert, ich werde die Arbeit noch einmal durchgehen“. Guttenberg fühlt sich in die Ecke gedrängt wie Jean-Claude Brialy als Claude Alvarez in Inspektor Lavardin oder Die Gerechtigkeit, als Inspektor Lavardin seine Sammlung Glasaugen zu zerstören droht. Gibt es noch einen Ausweg für Guttenberg? Mord als einzige Lösung wie für Michel Bouquet in Die untreue Frau? Er muss seine Fehler eingestehen. „Es sind größere Pannen passiert, ich entschuldige mich dafür, ich bitte die Universität, mir den Doktortitel vorerst abzunehmen.“ Der Titel fehlt ihm, er vermisst ihn schmerzlich, doch noch ist dieser nicht vollständig gegangen wie die Frau des Hutmachers in Die Fantome des Hutmachers. Doch die Medien, das Volk und vor allem die Wahrheit sind unerbittlich und lassen ihm keine Ruhe. „Ich verzichte vollständig auf meinen Doktortitel, schließe einen Rücktritt aber komplett aus!“ Guttenberg ist demaskiert, alle wissen von seiner sträflichen Tat wie der Schneider von den Morden seines Kollegen, des Hutmachers weiß. Dieser Schneider gibt keine Ruhe. Er ist unerbittlich und sammelt weiterhin Beweise. Bevor Guttenberg einen fatalen Fehler begeht, wie der Hutmacher, der sich selber ins Verderben stürzt, tritt er ab.
Die Maske des ehemals ehrenwerten Menschen aus dem Großbürgertum, ein Adliger mit ehemals weißer Weste ist demaskiert, der Zuschauer bekam auf eindrucksvolle Art und Weise vor Augen geführt, was in den Hinterzimmern der Bourgeoisie vor sich geht. Dinge, von denen kein Durchschnittsbürger je zu träumen wagte. Seine Familie ist zutiefst enttäuscht, sie schämt sich für die Offenheit Guttenbergs wie Hélène sich für ihren geständigen Mann in Vor Einbruch der Nacht schämt. Für die Ehefrau gibt es nur einen Ausweg – bevor der Ruf vollständig ruiniert wird, muss sie ihren Gatten aus dem Weg räumen. Unter der dissonanten, avantgardistischen Filmmusik Pierre Jansens verschwimmt das Bild, der Abspann läuft, während Hélène ihrem Ehemann die Überdosis Schlaftabletten verabreicht.
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