Eine Frau unter Einfluss

Eine Frau unter Einfluss

(„A Woman Under the Influence“, directed by John Cassavettes, 1974)

“All of a sudden, I miss everyone…”

1989 starb John Cassavettes an einer Leberzirrhose. 1984 hatte ihm sein Arzt mitgeteilt, dass er aufgrund seines Alkoholismus nur noch ein halbes Jahr zu leben habe. Wider Erwarten wurden aus diesem halben Jahr ganze fünf Jahre, die zur kreativsten Periode des amerikanischen Wunderkindes wurden. Zehn Jahre zuvor entstand bereits der vielleicht wichtigste Film des Regisseurs, Drehbuchautors und Schauspielers Cassavettes: Eine Frau unter Einfluss, eine Produktion mit geringem Budget, in Szene gesetzt mit seiner Frau Gena Rowlands und seinem Freund Peter Falk, der dem Zuschauer wohl am ehesten durch seine Rolle als Inspektor Columbo bekannt sein dürfte.

Damals als bester Film des Jahres von zahlreichen Kritikern bezeichnet, gerät A Woman Under the Influence immer mehr in Vergessenheit, präsentiert sich jedoch als eindringliches und weit unterschätztes Familiendrama, das zum Standardprogramm eines jeden Filmstudenten zählen sollte. Gena Rowlands spielt Mable, Hausfrau und Mutter. Sie ist mit Nick (Peter Falk) verheiratet, einem bei der Stadt angestellten Arbeiter, der in einer Grube für seine Familie das Geld verdient. Die Longhettis haben viele Freunde; dass Arbeitskollegen über Mable hin und wieder Scherze machen, da sie anders ist als die anderen, daran hat sich Nick längst gewöhnt. Doch es kommt immer wieder zu kleinen Eskalationen, die ihren Höhepunkt erreichen, als Nick Arbeitskollegen nach einer langen und zehrenden Schicht nach Hause bringt. Mable fordert gutgelaunt mehrere der Kollegen auf, zu singen und zu tanzen, woraufhin Nick letztendlich der Kragen platzt. Dem voraus gehen ähnlich unschöne Erlebnisse, wie etwa dem der Alkoholikerin Mable, die eines Abends, als ihre Kinder bei ihrer Mutter sind und Nick noch auf der Straße festsitzt, in einer Bar einen fremden Mann aufgabelt, den sie mit nach Hause nimmt.

Die beiden verbringen eine leidenschaftliche Nacht zusammen, ehe dem Fremden am nächsten Morgen klar wird, dass seine neue Bekannte unter Störungen zu leiden scheint, denn sie verwechselt ihn mit ihrem Ehemann und fragt nach ihren Kindern. Irgendwann kann Nick diese Situationen nicht mehr ertragen, er ist den Klatsch und das Verhalten seiner Frau Leid, als er befreundete Schulkameraden seiner Kinder nackt in der Wohnung herumlaufen sieht – ein Werk seiner Frau, die für jeden nur das Beste will. Nach einer langen Auseinandersetzung lässt er Mable schließlich in eine Nervenheilanstalt einweisen, doch dieser Entschluss scheint die Sache nur zu verschlimmern, denn als Mable schließlich nach einem halben Jahr wieder zurückkehrt, bahnt sich die nächste Katastrophe an.

Peter Falk sagte einmal, dass es in allen Filmen von John Cassavettes um dasselbe Thema gehe: Der Mensch als Gott in Ruinen. So auch bei Eine Frau unter Einfluss, einem Drama, in dem alle Menschen nur das Beste für sich und ihre Umwelt wollen. Doch sie versagen in ihrem Plan und stürzen sich ins Unglück, weil sie unfähig sind und nicht anders können. Cassavettes ist der Letzte, der sie dafür verurteilt oder bestraft und so urteilt er auch niemals über Mable, eine liebenswerte Ehefrau, die sich jahrelang für ihren Mann und ihre Kinder aufgeopfert hat, wie es Nick selbst sagt. Ihn würden ihre Anwandlungen nicht stören, doch irgendwann kommt selbst für ihn, den geduldigen Familienmenschen der Punkt, an dem er nicht weiter weiß und den einzigen Ausweg in der Gewalt sieht. Auf diese Weise vereinbart der Drehbuchautor und Regisseur mehrere Themen miteinander, die sich von Gewalt in der Ehe, über Alkoholismus bis zu Geistesstörungen strecken, ohne je von seinen Figuren zu verlangen, Rechenschaft über ihre Taten oder ihre Schwächen abzulegen.

Cassavettes porträtiert Menschen, die nur scheitern können und für die es keine Erlösung zu geben scheint. Mable ist die liebevolle Mutter, die ein wenig geisteskrank ist, doch die ihre Kinder glücklich macht. Ihr Mann leidet mit der Zeit zusehends unter den Anwandlungen seiner Frau und zwingt sie, sich in eine psychiatrische Anstalt zu begeben. Dort entlassen zeigt sich die greifbare Entfremdungen zu ihren Kindern, die zu ihrer Mutter kaum noch Kontakt fassen können, wie auch die Verschärfung ihrer Beziehung zu Nick, der seine Gewaltausbrüche immer weniger kontrollieren kann. Die Psychiatrie als letzte Festung für die Kranken, die Psychiatrie, welche die Familie vollends zerstören kann. Ein Film, der eine Laufzeit von zweieinhalb Stunden aufweist und von denen jede einzige ihre Rechtfertigung erhält, wenn eine Aneinanderreihung von schier unerträglichen Szenen präsentiert wird, die dem Zuschauer den Zerfall einer amerikanischen Familie präsentiert. Zum Zerreißen gespannt ist die Atmosphäre beim Essen mit Nicks Arbeitskollegen, wo die Spannung einzig und allein aus der inneren Frage resultiert, wann und wie sich Mable daneben benehmen wird, um die Gäste zu vertreiben, welche voller Schamesröte das Weite suchen.

Cassavattes beschreibt in derart intensiven Szenen die Auswirkungen dieser Krankheit, wobei er mehrere Fragen aufwirft: Ist all das krank, was nicht der Norm entspricht? Ist es nur die Suche nach dem wahren Ich? Kann diese Suche erfolgreich sein bei all den Einflüssen, die von außen auf uns einwirken? Alle  Charaktere bemühen sich, doch jegliche Bemühungen zu Konversationen müssen scheitern. In grausam realistischen Bildern macht der Regisseur den Schmerz dieses Scheiterns deutlich und offeriert hiermit eine der intensivsten und ungeschminkt brutalsten Melodramen der Filmgeschichte über das Entfremden einer ganzen Familie. Möglich gemacht wird dies vor Allem durch die erstklassigen schauspielerischen Leistungen von Gena Rowlands und Peter Falk, welche niemals besser waren als in diesem Werk, das einen schier sprachlos zurücklässt und derart viel Stoff zum Nachdenken bietet, dass es einen noch lange beschäftigen wird. A Woman Under the Influence ist kein schöner Film, doch aufgrund seiner schonungslosen Offenheit ein lohnendes, forderndes filmisches Erlebnis, das zu den filmisch souveränsten und besten Dramen der Filmgeschichte gezählt werden darf.

Anmerkung: Der Film ist in Deutschland bislang (Stand: Februar 2011) noch nicht auf DVD erschienen.



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