(„After Hours“, directed by Martin Scorsese, 1985)
“What do you want from me? I’m just a word processor!”
Wenn Griffin Dunne als gepeinigter Programmierer Paul durch die Nacht streift und dort von einem Abenteuer ins nächste geworfen wird, wird man den Eindruck nicht los, dass dies einer jener wertvollen Filme ist, die als Komödie zwar eine vortreffliche Figur abgeben, aber ebenso gut als berührendes Melodram hätte inszeniert werden können, denn die Ansätze sind alle vorhanden und in den besten Momenten dieses Werks schafft Martin Scorsese eine bravouröse Mischung aus Komödie und Drama, das den lachenden Zuschauer fast mit einem schlechten Gewissen zurücklässt. Denn worüber lacht man?
After Hours ist beim näheren Hinsehen keine Parodie auf Homers „Odyssee“, sondern eine Ansammlung von Einzelschicksalen diverser Menschen, denen Paul als Gruppe gescheiterter Existenzen begegnet und die erst in der Nacht damit fertig werden, sich mit ihren Problemen zu beschäftigen. Dies kann in einem Selbstmord enden, wie Paul auf schmerzhafte Weise erfahren muss, dies kann aber auch darin enden, dass die entnervte Frau eine Pistole zückt und kaltblütig mit mehreren Schüssen ihren Mann tödlich getroffen zu Boden segeln lässt. Paul befindet sich in einem Alptraum, dem er nicht entkommen kann und lediglich die bösartige Vorliebe für Schadenfreude lässt einen Spaß an dieser Farce haben, deren schaurige Episoden sich zusammenfügen wie ein buntes Mosaik, bei dem mit genauerem Blick mehr schwarze und graue, als helle Steinchen zu finden sind.
Eines dieser Steinchen ist der arme Paul, der sich eines Abends aufgrund Schlaflosigkeit mit seinem Lieblingsbuch in ein Café verdrückt hat, wo er Marcy (Rosanna Arquette) begegnet, die den Programmierer anspricht. Sie weckt sein Interesse und kurz nachdem sie ihm ihre Telefonnummer gegeben hat, sieht sich Paul in seinem Apartment am Telefon wieder. Sie verabreden sich noch in dieser Nacht, die das Leben mehrerer Menschen auf einen Schlag verändern soll. Was klingt wie ein intensives Drama wird inszeniert als leichtfüßige Komödie, die doch um einiges vielseitiges ist, als es zunächst den Eindruck macht. Paul begibt sich zur Wohnung von Marcy, die als junges Mädchen sechs Stunden lang vergewaltigt wurde, irgendwann jedoch während dieses Akts eingeschlafen ist. In dieser bittersüßen Bemerkung blitzt die Lakonie dieses Films auf, wenn sich Paul schließlich in sein Schicksal ergeben möchte, aber überhaupt nicht die Zeit dazu bekommt, sich darauf einzustellen.
Die Zeit verfliegt. Er flieht aus der Wohnung von Marcy, um diesem Alptraum voller verwirrter Menschen zu entkommen, bevor es schlimmer wird. Doch es wird schlimmer, indem Personen auftauchen, die für Paul alle zum Verhängnis werden können und hier fügt sich die Kritik von Filmhistoriker Leonard Maltin ein, der behauptet, Griffin Dunne als Hauptdarsteller sei der einzig normale Mensch in diesem Werk, das vor Karikaturen nur so wimmelt. Er hat Recht. Aber darin besteht auch gleichzeitig die Qualität von Die Zeit nach Mitternacht, denn diese unwirklichen Gestalten tragen wesentlich zur beinah schon surrealen Stimmung bei, die in ihrer gespannten Atmosphäre bald anmutet wie ein unfassbarer Alptraum, inszeniert als groteske Komödie, die durch die Augen des Programmierers geschildert wird. Und dem sind die Gestalten, denen er begegnet überhaupt nicht geheuer.
After Hours lässt Freiraum für Interpretationen. Was erlebt Paul wirklich und was ist durch seinen Schlafentzug nur Einbildung? Was ist Wahrheit, wenn man an den Lehrsatz Michael Hanekes denkt, dass die Wahrheit nur eine Sache des Standpunktes ist. Drehbuchautor Joseph Minion entnimmt Textstellen aus Franz Kafkas „Vor dem Gericht“ und lässt diese in einem Gespräch zwischen Paul und dem Türsteher eines Punk-Clubs erklingen und erfreut sich diebisch daran, seine eigene Kreation leiden zu sehen, der wie ein Kleinkind strampelt, um sich gegen das Schicksal zu wehren, dem es egal ist, wie unglaubwürdig es letztendlich ist, denn in der Nacht ist alles möglich, wenn die Menschen sich mit ihren Problemen beschäftigen und nur zu dieser Zeit fähig zu sein scheinen, diese überhaupt zu sehen wie helle Glühwürmchen, die tagsüber nicht zu erkennen sind.
In lakonischer Manier schafft Scorsese bittersüße Momente, die mit den Emotionen der Zuschauer spielen, wenn der Barmann erfährt, dass seine Freundin soeben Selbstmord beging und man weiß, wie tief Paul in diesem Schlamassel steckt. Man schmunzelt, nicht in vollem Umfang realisieren wollend, was dies für den einsamen Mann hinter der Theke bedeutet. All dies wird eingefangen in einer brillanten Kameraarbeit von Michael Ballhaus, der mit unendlich vielen Tricks arbeiten musste, um das Gefühl des Unwirklichen angemessen transportieren zu können. Ein absurdes Stück Filmgeschichte, das glänzend unterhält und nebenher nicht ganz so unschuldig und harmlos ist, wie es vielleicht den Anschein machen möchte. Martin Scorsese selber ist übrigens im Punk-Club „Berlin“ in einem kurzen Cameo-Auftritt als Beleuchter zu sehen.
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