„Kaleidoscope“ (1964 – 1971)
Es gibt Konzepte zu viel versprechenden Filmstoffen, die jedoch nie in ein Kinowerk umgesetzt wurden. Es gibt allerdings auch Filme, die aus den verschiedensten Gründen nie fertig gestellt wurden oder gar Werke, die zwar komplett gedreht, anschließend aber sofort zerstört wurden, ohne dass je ein Zuschauer diesen Film gesehen hat. Dieser Teil der neuen Serie „Filme, die nicht existieren“ dreht sich um Kaleidoscope von Alfred Hitchcock.
„Hitchcock wollte einen Stoff verfilmen, der Kaleidoscope Frenzy hieß und drehte dafür einige Testaufnahmen in New York. Der Stil des Films sollte dem von Michelangelo Antonionis Blow Up recht ähnlich sein, ein Werk, das Hitchcock sehr respektierte. ‚Die italienischen Jungs sind uns einige hundert Jahre voraus‘, sagte er. Geschrieben von Hitchcock, beginnt Kaleidoscope Frenzy mit einem brutalen Mord, der von einem Mann begangen wurde, welcher sich dazu genötigt sieht, zu töten, wenn er von viel Wasser umgeben ist. Die Morde werden schließlich von seiner Mutter aufgeklärt. Es sollte in diesem Film keine Stars geben, er sollte in New York gedreht werden und es sollte Nacktheit zu sehen sein. Hitchcock glaubte an diesen Film, doch Universal sagte ‚Nein‘ – ein Wort, dass er seit seiner Zeit bei (David) Selznick nicht mehr gehört hatte.“
Mehr steht nicht über dieses Projekt in Charlotte Chandlers wenig ausführlichem Buch über Alfred Hitchcock „It’s Only a Movie“. Der Grund, weshalb man bei Universal ‚Nein‘ zu diesem Film sagte, war, dass man fürchtete, Hitchcock würde sich seinen Ruf ruinieren, denn das geplante Projekt unterschied sich in nahezu allem von dem, was der große Regisseur zuvor gemacht hatte. Das von ihm so geliebte Projekt sollte voll von brutaler Gewalt sein, man sollte viele komplett nackte Frauen sehen und hinzukam, dass Hitchcock diesen Film ohne bekannte Stars drehen wollte, auch wenn Michael Caine kurz als Hauptdarsteller erwähnt wurde. Bereits 1964 versuchte der Filmemacher, diesen Thriller um einen Serienmörder und Vergewaltiger zu realisieren, geschildert komplett aus der Sicht dieses gefährlichen Mannes, der Frauen damit umgarnte, dass er gleichzeitig attraktiv und verletzlich war, lose basierend auf mehreren wahren Begebenheiten, die sich in England zugetragen hatten.
Daraus sollte nun ein Drehbuch entstehen, doch die Sache war etwas komplizierter, als lediglich ein solches aus dem Boden zu stampfen. Die Idee war, Robert Bloch dafür zu gewinnen, eine literarische Vorlage für das Drehbuch zu schreiben, da dieser bereits für die Vorlage zu Psycho verantwortlich gewesen und prinzipiell nicht uninteressiert an der Idee von Hitchcock war. Doch die Verhandlungen mit Bloch zogen sich lange hin, da dieser den Geldbetrag, den man ihm für seine Arbeit bot, als viel zu niedrig empfand. 10.000 Dollar wurden ihm geboten, wenn er ein Buch schriebe, welches man dann für eben diesen Preis für die Filmrechte aufkaufen würde.
Bloch lehnte ab, traf sich jedoch im November 1964 immerhin mit Hitchcock, über diese finanziellen Dinge zu reden, um mehr Geld für sich herauszuschlagen. Sein Ziel erreichte er, indem er schließlich vertraglich die doppelte Summe für diesen Auftrag zugesichert bekam. Zusätzlich schickte man ihm Material über die Vorfälle in England, auf denen der Film beruhen sollte. Die Zeit verging. Doch Bloch konnte auch in der Mitte von 1965 noch kein Buch vorweisen – nicht einmal eine präzise Vorstellung des literarischen Stoffs konnte er seinen Vertragspartnern präsentieren. Das Projekt wurde auf Eis gelegt. Doch Hitchcock ließ dieser Film nicht los. Er suchte verzweifelt nach jemandem, dem er vertrauen konnte und der seine Wünsche in die Tat umsetzen würde. So geschah es, dass sein alter Benny Levy mit dem Stoff vertraut gemacht wurde und im Gegensatz zu Bloch war dieser sofort Feuer und Flamme für die Idee des Vergewaltigers und Mörders, dessen Geschichte der legendäre Regisseur auf die Leinwand bannen wollte.
Levy hatte klare Vorstellungen von dem Stoff, was er seinem alten Freund auch bald darauf erzählte. Der junge Mann, Willi Cooper, würde mit einer jungen Frau anbandeln, die seiner Zärtlichkeit bedarf. Willi ist sensibel und die beiden verlieben sich einander, sodass sich eine scheinbar harmonische Romanze entwickelt, von der die Zuschauer ganz verzückt werden. Aus dieser Schwärmerei wird die leibreizenden Bilder wird man jedoch gerissen, als Willi seine Geliebte brutal umbringt. Ab diesem Zeitpunkt beobachtet man den Fortgang dieses Charakters, der bald darauf eine weitere ähnliche Tat begeht. Schließlich tappt er jedoch in die Falle einer dritten Frau, die von der Polizei als Lockvogel ausgesendet wurde, um dem Täter dingfest zu machen. Levy erhielt das Geld für ein rohes Drehbuch und begann sofort mit der Arbeit. Angeblich arbeitete auch Samuel Taylor am Drehbuch mit, der sich bereits für Vertigo von 1958 verantwortlich gezeichnet hatte. Das fertige Drehbuch zeigte Hitchcock schließlich seinem Freund Francois Truffaut, der von seinem Idol ein Buch publiziert hatte, das heute einen großen Bekanntheitsgrad genießt und aus dem sehr ausführlichen Interview besteht, welches unter dem Titel „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ auch im deutschen Buchhandel erhältlich ist.
Truffaut mochte das Drehbuch, fühlte sich jedoch auch sehr unwohl bei dem Gedanken daran, dass Hitchcock derjenige sein sollte, der dieses Buch verfilmen sollte. Zu krass sei der Gegensatz zum Hitchcock-Stil, der sich so großer Beliebtheit erfreute. Zu düster, zu schmutzig, zu brutal und auch zu experimentell, denn Hitchcock wollte sich bewusst an europäische Filme jener Zeit anlehnen, die größere Freiheiten erlaubten, als es Hollywood je tat. Die Idee war, den Streifen komplett mit Handkamera und nur mit natürlicher Beleuchtung a la Dogma zu drehen. Hitchcock ließ sich auch von Truffaut nicht entmutigen und reiste nach New York, um dort einige Probeaufnahmen zu drehen, die zwar ohne Ton, aber dafür mit einer Länge von einer Stunde noch erhalten sind. All dies änderte jedoch nichts an der Haltung des Filmstudios, bei dem Hitchcock unter Vertrag sind. Universal blieb bei ‚Nein‘ und verweigerte damit einem ihrer erfolgreichsten Regisseure sein Herzensprojekt. Dieser verwendete jedoch einige Aspekte dieses Stoffes bei seinem 1972 entstandenen Frenzy, der in London anstatt in New York gedreht wurde und eher eine pechschwarze Komödie ist, als ein brutaler Thriller. Kaleidoscope ist nur eines von vielen geplanten Filmprojekten, die Hitchcock gerne verfilmt hätte und die ihn bis an sein Lebensende beschäftigen sollten.
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