(„Insomnia“, directed by Erik Skjoldbjaerg, 1997)
Der Film beginnt mit schmutzigen, verwackelten Bildern einer Handkamera. Der Zuschauer sieht eine junge, schwarzhaarige Frau, er wird Zeuge des Mordes an ihr. Er wird Zeuge, wie der Mörder sorgsam alle Spuren beseitigt, sie auszieht, während Misshandlungsmerkale an ihren Armen sichtbar werden. Bereits hier befindet man sich mittendrin in Insomnia, dem Todesschlaf – dem schwedischen Werk, das Christopher Nolan zu seinem 2002 entstandenen Remake inspirieren sollte und Schande über diesen schickt, vergleicht man beide Filme.
Erik Skjoldbjaergs Version ist derart vielschichtig, unprätentiös, kalt und sowohl visuell, als auch in der Psychologie der Charaktere derart reichhaltig, dass man nach Studium dieses Thrillers lange suchen muss, um eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb überhaupt ein Remake gedreht wurde, anstatt dieses Werk in den Vereinigten Staaten besser zu vermarkten. Denn Christopher Nolan kopiert zudem in seinem Insomnia unverhohlen zahlreiche Szenen 1:1, ohne dabei die atmosphärische Dichte Norwegens auch nur im Entferntesten erreichen zu können. Während Nolans Film gegen Ende in eine stereotype Hollywood-Ballerei ausartet, ist der intimste Freund des Originals die Stille.
Die Sonne geht niemals unter im Norden Norwegens, doch anstatt warmem Sonnenschein wird dem Zuschauer fortwährend ein kaltes Weiß präsentiert. Es ist ungemütlich – auch für den schwedischen Ermittler Jonas (Stellan Skarsgard), der in diese Region geschickt wird, um den Mord an einer jungen Frau, einer Schülerin aufzuklären. Mit ihm ist sein alter Freund und Kollege Erik (Sverre Anker Ousdal) gekommen, der ihn in seinen Untersuchungen unterstützen soll. Bald stoßen sie auf immer mehr Ungereimtheiten, denn im Kleiderschrank der Toten finden sich mehrere teure Kleider, die sich das Mädchen unmöglich leisten konnte, sodass sich der Verdacht auf einen älteren Liebhaber erhärtet.
Die Suche nach diesem mysteriösen Unbekannten ist jedoch für den Ermittler Jonas nicht das größte Problem. Zusätzlich zu seiner Schlaflosigkeit aufgrund der steten Helligkeit in diesem Land, das ihn fast in den Wahnsinn treibt, bringt ihn sein Gewissen fast um den Verstand. Während einer Verfolgung, bei welcher der unbekannte Geliebte des toten Mädchens festgehalten werden soll, löst sich aus Jonas Waffe ein Schuss. Abgefeuert auf einen Schatten im Nebel, hat er seinen Freund und Kollegen Erik erschossen. Unfähig zuzugeben, dass er es war, der diesem Mann das Lebenslicht ausgelöscht hat, verstrickt er sich immer mehr in Widersprüchlichkeiten und einem Strudel aus Angst, Aggression und Verzweiflung, dem er nicht mehr entkommen kann.
Insomnia ist ein Film über Beklemmung und Moral, kein klassischer Thriller, der sich mehr für die Ermittlungen selbst interessiert als für die Charaktere der Untersuchenden und der Verdächtigen. Der Schwede Jonas ist der verlorene Antiheld, er ist einsam und hat nicht nur mit seinem Gewissen zu kämpfen, sondern auch mit seiner ständigen Angst vor menschlicher Nähe und sexuellem Kontakt, der ihn zu einem unberechenbaren Wesen macht, wie die Frau an der Rezeption in seinem Hotel auf schmerzhafte Weise erfahren muss. Der Charakter Jonas‘ ist so schmutzig und unangenehm, so kalt und undurchsichtig wie der Teil Norwegens, in dem er sich befindet und gegen den er kämpfen muss, wenn er seinen Frieden finden will. Es wird jedoch immer mehr zu einem Kampf gegen sich selbst, der immer schwieriger zu gewinnen sein wird. Ein großer Teil der filmischen Kälte resultiert anfangs aus der Tatsache, dass der Zuschauer kaum etwas über den Charakter Jonas‘ erfährt.
Er ist ein Wandelnder, der nach etwas sucht, doch wir kennen nicht seine Wünsche, seine Träume oder seine Sehnsüchte. Er ist ein Fremder, mit dem wir uns nicht identifizieren können, weil uns all sein Innerstes verborgen bleibt. Je weiter der Film voranschreitet und je mehr man über den Ermittler erfährt, desto abstoßender reagieren seine Umwelt und seine Mitmenschen auf ihn – und dann ist da wieder diese Kälte durch die Ablehnung, durch die Angst, die Jonas empfindet und für die er aufgrund seiner Gewissensbisse teilweise selber verantwortlich ist. Todesschlaf traut sich daher nicht nur aufgrund seiner scharfen Charakterzeichnung mehr als sein Remake, in dem Stellan Skarsgard in seinem brillanten Spiel seinen sexuellen Trieben nicht länger widerstehen kann und einer minderjährigen Schülerin die Hand immer tiefer zwischen die Beine schiebt.
Es ist auch der Mut zu ungemütlichen Einstellungen, das Zeigen vom Aufschneiden eines toten Hundes, die Obduktion am menschlichen Körper, die diesen Film so ungemütlich machen. Dabei ist dieses Werk nicht nur psychologisch interessant, sondern visuell ebenfalls beeindruckend mit originellen Kamerawinkeln im Rückspiegel oder durch die zerbrochene Fensterscheibe eines Autos, immer Ermittler Jonas im Blick haben, den Kampf dieser Figur mit sich selbst sezierend. „Insomnia“ ist in allem, was er tut absolut stilsicher. Seien es die dichten, blauen Nebelschwaden der Landschaft, die den ganzen Fall in ein undurchschaubares Labyrinth verwandeln oder die dichten, blauen Nebelschwaden im Kopf von Jonas, der sich bald von allen Seiten bedroht sieht.
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