Die Spielregel

Die Spielregel

(„La regle du jeu“, directed by Jean Renoir, 1939)

“The awful thing about life is this: Everybody has their reasons.”

Es ist eine Ode an die Langweiligkeit der Bourgeoisie. Diese wohlhabenden Menschen, sie stehen herum, sie reden banales Zeug, aber sie arbeiten nie, sie sind unendlich passiv in all dem, was sie tun bzw. in dem, was sie eben nicht tun. Und immer wieder ist die Flucht der zentrale Punkt dieses zeitlosen Sittengemäldes, sie alle wollen ihrem öden Dasein entfliehen, aber letztendlich scheitert es daran, dass sie zu passiv sind. Sie bleiben stecken und um dieser Leere, dem Ersticken zu entkommen, veranstalten sie eine Kaninchenjagd, auf der sie mit ihren Gewehren auf alle Tiere schießen, die sich auf dem Boden oder in der Luft bewegen. Peng!

Aber es ist kein Befreiungsschuss, sondern nur ein kurzes Entkommen aus ihrer Langeweile, bevor sie von ihrer alltäglichen Routine in der amüsanten Figurenkonstellation wieder eingeholt werden. Als Erstes wäre da André (Roland Toutain). Er ist zwar kein Vertreter der Bourgeoisie, aber so etwas wie ein Held, denn er ist in einem Flugzeug von Amerika nach Frankreich geflogen und wird dafür von der breiten Masse verehrt und herzlich willkommen geheißen, als er wieder auf französischem Boden landet. Seine Freude hält ich jedoch sehr in Grenzen und statt einen Gruß über das Radio an die Zuhörer zu senden, tut er seinen Unmut kund, indem er in das Mikrofon einer jungen Reporterin weint und beklagt, dass seine geliebte Christine (Nora Gregor) auf dem Empfang nicht anwesend ist. Christine ist nämlich verheiratet und selbstverständlich recht teilnahmslos, wenn es um die Landung ihres Geliebten geht, denn die Gefühle für ihn scheinen abgestumpft zu sein.

So sagt sie zumindest, doch es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich die Menschen in diesem Film selber belügen. Andrés Freund Oktave (Regisseur Jean Renoir) kann das Leid seines Kumpels nicht länger mit ansehen und da er mit Christine selber befreundet ist, versucht er, die Beiden wieder zusammenzuführen. Christine ist wenig begeistert. Ihr Mann Robert (Marcel Dalio) ebenfalls. Immerhin lässt sich dieser jedoch dazu breitschlagen, den Piloten für ein Wochenende auf seinem Landgut einzuladen. Zu den weiteren Gästen gehören  Lisette (Paulette Dubost), die Kammerzofe, deren Mann in diesem Landhaus arbeitet, während sie einige Kilometer weit entfernt zahlreiche Affären hat, Oktave, ein gutherziger, verhinderter Musiker, Marceau (Julien Carette), der Fallen für die Kaninchenjagd aufstellt und Geneviève (Odette Talazac), die Geliebte von Robert, dem Mann von Christine.

Sie merken, es ist ein reichlich komplexes Liebeskarussell in diesem Werk von Jean Renoir. Es ist absurd, es ist ein bisschen bösartig in seiner Satire, es ist in seiner Pluralität der Charaktere mit derart zahlreichen Details so vollgestopft, dass mit einem einzigen Studium von Die Spielregel nicht alles erfasst werden kann. Die Figuren werden recht schlicht aufgeteilt in Bourgeoisie und Proletariat – Großbürgertum und Mittelschicht. Zu letzterer gehören der unglückliche Pilot André, Oktave und die Bediensteten Lisette, ihr Mann sowie Marceau. Die Aufgabe dieser Personen ist es, den Charakteren der Bourgeoisie – Christine, ihr Mann Robert, sowie deren zahlreiche Gäste – zur Vernunft zu bringen, den Snobs die Verrücktheiten auszutreiben. Wenn eine Dame aufgrund einer Diät gekochtes Salz zu sich nehmen will, schert sich der Koch nicht im Geringsten um diese Sonderwünsche, sondern serviert ihr das, was alle bekommen, denn für derlei Flausen hat man kein Verständnis.

Oktave als Vertreter der Mittelschicht hingegen ist dafür verantwortlich, den Beteiligten immer wieder den Unterschied zwischen Herz und Verstand vor Augen zu führen sowie deren Unvereinbarkeit. André versteht anfangs nicht so recht, dass er sich daneben benommen hat, als er im Radio seinen Unmut über die Frau geäußert hat, die ihn verließ. Weil sein Verstand aussetzte, wurde er von seinem Herzen getrieben und er ist in diesem ganzen, verwirrenden Spiel der Einzige, der sich seiner Gefühle sicher ist, während die anderen herumprobieren, experimentieren, von einem Bett ins andere springen. Jeder küsst jeden, „Ich liebe dich“ wird zu einer Floskel, die bald nichts mehr zu bedeuten hat, da man sie zu jedem sagt, in seinem tiefsten Inneren sich aber sehr wohl darüber bewusst ist, dass man sich darüber gar nicht so sicher ist. Oktave weiß das, denn trotz seines hitzigen Benehmens, seines Herumtreibens ist er der kühle Beobachter, der versucht, alles unter Kontrolle zu behalten, was freilich in dieser Gesellschaft gar nicht gelingen kann.

Renoir macht sich unverhohlen über die Bourgeoisie lustig. Mal weniger, mal aber auch mehr deutlich, wenn die Geschichte eines Mannes erzählt wird, der sich durch einen Unfall mit einem Gewehr das Bein zerschoss und daraufhin starb – woraufhin alle Umstehenden in lautes Gelächter ausbrechen. Aber das sind eben die Geschichten, die man sich erzählen muss, um nicht an sein tristes Dasein erinnert zu werden, an die unendliche Langeweile, die einen umgibt. All das ist nur das Resultat ihrer Ängste, denn die Jäger der Oberschicht wollen all das beseitigen, das ihnen auch nur im Entferntesten den leichtesten Schaden zufügen könnte – ein Eichhörnchen etwa, das Ziel eines Angriffs wird.

Diese Leute sind derart passiv, dass sie vor lauter Nichtstun nicht einmal die Zeit haben, einem schwitzenden Oktave aus dessen Bärenkostüm zu helfen. Diese Passivität wird nur unterbrochen von kindischen Kämpfen, die letztendlich in einem Unglück enden müssen. Zu ihrer Angst steht natürlich niemand, denn alle lügen sich selbst und die anderen an, sie reden sich heraus, ganz kleinlaut und bescheiden, wenn sie erklären wollen, weshalb sie nicht in eine Schießerei eingegriffen haben. Dass jeder lügt ist dabei auch gleichzeitig die Legitimation für ein jedes Individuum zu lügen – ein absurder, aber auch einleuchtender Teufelskreis, der von der faulen, vergnügungssüchtigen Bourgeoisie ohnehin nicht durchbrochen werden kann. Erst durch einen tragischen Unglücksfall werden sie zum Handeln gezwungen, doch da ist bereits alles zu spät. In dem Moment, in dem sie anfangen, ehrlich zu sein, werden Freunde zu Feinden und Feinde zu Freunden. C’est la vie?!



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