(„Herz aus Glas“, directed by Werner Herzog, 1976)
„Der Rubin muss uns retten!“
„Herz aus Glas“ ist eine absurde Farce, mit abstrakten, gar grotesken Darstellungen. Werner Herzogs Film ist eine Chronik des Abstiegs einer ganzen Gesellschaft, die an ihrer Trägheit zerbricht, an ihrer Handlungsunfähigkeit, an ihrer Verblendung und ihrer Verzweiflung. Dabei ist eine Chronik, die jederzeit an jedem Ort stattfinden könnte, losgelöst von Ort und Zeit, losgelöst von Bayern, losgelöst vom frühen 19. Jahrhundert, in der Herzog seinen Film ansiedelte. Es ist ein ganz kleines Dorf, fern jeglicher Zivilisation, in der sich nun die Gruppe der Bewohner mit existenzialistischen Problemen konfrontiert sieht, denn der Vorarbeiter einer Glasmanufaktur ist gestorben. Das bedeutet, dass das Herstellen von Geschirr und allgemeinen Gegenständen aus Rubinen nicht mehr möglich ist, da der wohl wichtigste Mann des Dorfes sein Wissen mit in sein Grab genommen hat. Erst allmählich wird ihnen klar, was das für Auswirkungen auf das Leben haben wird. Die Fabriken müssten geschlossen werden, gefolgt von Armut und Hungersnöten bis hin zur totalen Zerstörung, wie es der Seher (Josef Bierbichler) voraussieht.
Es ist eine absurde Situation. Fieberhaft sucht man nach der Anleitung zur Herstellung von rubinfarbenen Gegenständen. Aber man findet nichts. In all ihrer Verzweiflung wenden sich die Menschen an den Seher, sie klammern sich an den letzten Strohhalm, an den Mystizismus, von dem sie sich eine Rettung erhoffen. Die Absurdität bleibt. Niemand fragt, warum man denn überhaupt Geschirr aus Rubin benötigt und warum man nicht stattdessen normales Glas herstellt und verkauft, um das Überleben zu sichern. Das spielt keine Rolle, so etwas würde einem nie in den Sinn kommen, stattdessen ergeht man sich in der Handlungsunfähigkeit, in seiner vollkommenen Trance, die es verhindert, Neues zu schaffen. Das sagt viel über eine alterslose Gesellschaft aus, die eher jahrelang alten Rezepten hinterhersucht, anstatt sich bemüht, Neues zu schaffen und dadurch selber das Chaos und die Zerstörung heraufbeschwört.
Es stellt sich auch nie die Frage, warum man sich nicht vor dem Tod des Vorarbeiters darum bemüht hat, die Geheimnisse des Rubins zu bekommen, in der weisen Voraussicht, diese sicher abrufbar zu haben, falls es zu einem Unglücksfall komme. Wieder ist es da die Blindheit, die Naivität und die Faulheit, welche die Menschen in dem kleinen Dorf fast dazu bringt, am Hungertuch zu nagen. Diese Unmündigkeit kann freilich nur in einem enden: in Sodom und Gomorrha, in Weltkriegen, in der totalen Zerstörung, in einer abgrundtiefen Dystopie, welche der Seher heraufbeschwört und die zu einem bitteren Klagelied wird, denn was er sagt, ist so rätselhaft wie unmissverständlich. Kriege werde es geben, mahnt er und der Zuschauer sieht die großen Diktatoren vor seinen Augen lebendig werden, die Menschen werden sich gegenseitig alle hassen, Bauern würden vornehme Stiefel tragen und politisieren können, die Gesellschaft wird auseinandergetrieben und man errichtet hohe Zäune um seine Häuser, um in Abgeschiedenheit mit den anderen nichts mehr zu tun zu haben.
Und natürlich sind da die atomaren Katastrophen, die großen Erschütterungen, die Naturkatastrophen, die Insel, die überschwemmt und unter das Wasser gedrückt wird. In diesen Prophezeiungen, in den bitteren Monologen wird Herz aus Glas zu einer pessimistischen, aber dadurch nicht weniger realistischen Weltsicht, zu einer unerbittlichen Anklage an die Unfähigkeit des Menschen, der hier an seinem Hang zum Mystizismus scheitert. Vielleicht ist es gar eine Anklage an die Religion, die manche Menschen mit Blindheit schlägt, denn am Ende brennt die Glasfabrik nieder, die heimliche Kirche des Dorfes, das wichtigste Gebäude, der Ort, an dem der Rubin als Gott angebetet wird. Diese Menschen halten fest an ihrem Glauben, auch wenn er sie ins Verderben stürzt. An dem Rubin muss etwas Besonderes sein, etwas Faszinierendes, etwas Mystisches, aber niemand vermag zu sagen, was nun dieses Besondere eigentlich sei – es wird, wie so vieles, nie hinterfragt. Und als man die Anweisungen zum Herstellen der Rubin-Gegenstände nicht findet, befragt man einen Seher, einen Propheten, einen Mystiker, anstatt selber zur Tat zu schreiten und etwas zu unternehmen. Dieser Prophet nimmt ihnen letztlich das Denken ab. Vielleicht war es das, was sie wollten und nichts mehr.
Im Audiokommentar auf der deutschen DVD sagt Werner Herzog, er habe vor dem Dreh alle Beteiligten, ausgenommen Josef Bierbichler und die professionellen Glasbläser, hypnotisieren lassen. Ohne das beweisen zu können, glaubt man ihm das, denn der Film ist von einer ungreifbaren Aura des Entrückten umgeben, wie auch seine Charaktere, denen Herzog mit der Hypnotisierung jegliche Individualität genommen hat. Diese Individualität, die im bayerischen Dorf durch all die Verblendung natürlich nicht existieren kann, greift erst im Epilog des Films, einer kleinen Erzählung über drei Männer, die jahrelang auf dem höchsten Punkt einer Insel stehen und glauben, die Erde sei eine Scheibe. Dass dem nicht so ist, ist noch nicht an ihre Ohren gedrungen und so glauben sie es einfach, ohne es selber zu hinterfragen, bis schließlich einer von ihnen das Geheimnis ergründen will und die anderen beiden überredet, in einem Boot auf das Meer hinauszufahren, um zu sehen, ob man tatsächlich in einen Abgrund fallen wird.
Das ist ein emotionales, sehr bewegendes Ende für diesen langsamen, anspruchsvollen, unorthodoxen und intellektuell reichhaltigen Film, der von Herzogs Kameramann Jörg-Schmidt Reitwein in atemberaubend schönen, weitläufigen Naturaufnahmen eingefangen wurde. Wenn sie dann auf einem zu kleinen Boot hinaussegeln haben sie vielleicht verloren, weil sie vielleicht verhungern und verdursten werden, aber für Werner Herzog haben sie gewonnen, weil sie endlich ihrer Naivität und Gutgläubigkeit entkommen sind. Dieselbe Gutgläubigkeit, die tausende Menschen Befürworter von Nationalsozialisten oder Atombomben werden ließen.
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