Der Kommissar und sein Lockvogel

Der Kommissar und sein Lockvogel

(„Dernier domicile connu“ directed by José Giovanni, 1970)

„Denn das Leben ist schon verloren, wenn man es nicht so gelebt hat, wie man es hätte leben wollen.“

Regisseur José Giovanni kannte das harte Leben auf der falschen Seite des Gesetzes. Für diesen Standpunkt wurde der spätere Filmemacher ins Gefängnis gesteckt, wo er sich rehabilitieren ließ und später als Schriftsteller auf sich aufmerksam machte, wo er seine Erlebnisse verarbeitete und nicht selten die Polizei oder das Justizsystem anprangerte. Dass er das Leben eines Verbrechers mit allen Schattenseiten studiert und erfuhr, heißt jedoch nicht, dass er für seine Filme nicht hin und wieder gerne mal übertrieben hat, wenn es um den Umgang der Polizei mit Verbrechern geht.

Hier übertreibt es Lino Ventura als Kommissar Leonetti, der einen jungen Mann bei Betreten einer Kneipe mehrmals gegen Wand und den Billardtisch schlägt, bis dessen Kopf aus allen Nähten blutet. Das gehört zu Giovannis Polizei-Kritik nun mal dazu. Helden gibt es in seinem dritten Spielfilm Der Kommissar und sein Lockvogel“ohnehin nicht – die Polizei, der Freund und Helfer des Menschen ist es überhaupt nicht. Hauptfigur dieser fiktiven Erzählung ist Leonetti, ein lakonischer Antiheld und „Superbulle“, der nichts zu verlieren hat. Vor einigen Jahren kamen seine Frau und sein Kind bei einem Autounfall ums Leben, seitdem ist seine Existenz eher als Vegetieren zu bezeichnen, ohne dass er dabei seine Arbeit vernachlässigen würde. Im Gegenteil. Er gibt 110% und gilt als einer der erfolgreichsten Männer in seinem Geschäft.

Wie auch in Endstation Schafott, Giovannis vielleicht bestem Film, geht es auch hier um den gewaltigen Einfluss mächtiger Individuen oder Institutionen, die ungerechtfertigter Weise ein ganzes Leben zerstören können, ohne dass das Opfer auch nur den Hauch einer Chance hat, sich dagegen zu wehren. Das muss auch Leonetti erfahren, als er den Fehler begeht, den Sohn eines Anwalts zu verhaften. Dessen Vater gefällt das gar nicht und so übt er Druck auf den Chef des Polizisten aus, der diesen sofort versetzen lässt, um negative Schlagzeilen zu vermeiden. Von nun an fristet der ehemalige, sehr erfolgreiche Kommissar ein tristes Dasein in einer kleinen Polizeistation, die ihn schon sehr bald langweilt. Viel besser wird es auch nicht, als er den Anruf eines alten Freundes erhält, der nun Leiter einer Sittenabteilung ist, in der man (meistens) Männer mit abnormalen Trieben aufspürt und verhaften lässt. Man bittet dort um Leonettis Mitarbeit. Dieser sagt zu, bekommt für die zukünftigen Ermittlungen aber einen Lockvogel gestellt.

Der Lockvogel ist zudem noch sehr attraktiv und wird personifiziert von der noch jungen Sozialarbeiterin Jeanne Dumas (Marlène Jobert). Gemeinsam schnappen sie sich Perverse in dunklen Kinos, doch diese schmutzige Arbeit macht Jeanne bald zu schaffen. Da tut es gut, dass sie einen neuen Auftrag zugeschoben bekommen: sie sollen innerhalb der nächsten acht Tage einen Mann finden, der als Kronzeuge in einem der Aufsehen erregendsten Prozesse des Landes aussagen soll. Was sie nicht ahnen ist, dass dieser Auftrag nicht vom Sittendezernat selber kommt, sondern vom obersten Chef der Polizei in Paris, der Leonetti einst versetzen ließ. Was sie außerdem nicht ahnen: die Suche wird schwieriger als gedacht, denn nach dem wichtigen Zeugen sucht man bereits seit fünf Jahren – ohne eine Spur. Zudem werden der Kommissar und sein Lockvogel von vier gewalttätigen Männern verfolgt, die den Gesuchten um jeden Preis in ihre Finger bekommen wollen…

In dem Aspekt des Einflusses mächtiger Männer muss ein Einzelner gegen ein ganzes System kämpfen, das sich auf die Seite der Mächtigen gestellt hat. Der Einzelne ist hier Lino Ventura als Leonetti, der jedoch weniger gegen das System kämpft – denn die Hoffnung hat er längst aufgegeben – sondern vielmehr gegen sich selbst, irgendeinen Beweis suchend, dass er noch am Leben und zu mehr als zum Atmen fähig ist. Diese pessimistische, fast nihilistische Weltsicht des alten Kommissars wird besonders deutlich in den Szenen mit einer überaus engagierten und naiven Jeanne Dumas, auf die sich der Fokus bald verschiebt. Wahrscheinlich ist sie auch die interessantere der beiden Ermittler, die gegen Vorurteile und Sexismus kämpfen muss, den sie von männlichen Verhörten zu ertragen hat.

Das wirft sie schnell aus ihrer rosaroten Welt, die sie sich so mühsam aufgebaut hatte, hier aber nun erkennen muss, dass es ein harter Job ist, für den man in einer rabenschwarzen Nacht auf offener Straße brutal zusammengeschlagen werden kann – so wie ihr Kollege Leonetti. Ohne Musik und Geräusche, sondern nur mit dem schweren Atem der Beteiligten filmt Giovanni diese brutale Schlachtorgie, in der sich der Ermittler behaupten muss. Er erträgt die Schläge, will nicht ins Krankenhaus, er schleppt sich unter die Dusche. Manchmal hat man den Eindruck er genießt die Schmerzen. Einfach nur um zu fühlen, dass er noch lebt und Gefühle hat. Gefühle hat er auch für seine junge Kollegin, doch der Regisseur und Drehbuchautor begeht nicht den Fehler, eine konstruierte Liebesgeschichte zu entwerfen, die mit diesen zwei so verschiedenen Protagonisten ohnehin nicht funktionieren könnte. Stattdessen gibt es Flirts, es prickelt, es geschehen Andeutungen, aber kein überbordender Kitsch, kein Schmalz, sondern ganz nüchternes Beobachten, was diesen Thriller in seiner Erzählstruktur so angenehm macht, er hält nämlich sein Tempo bis zum Schluss konstant, ohne mit unnötigen Längen den Zuschauer zu ermüden.

In Dernier domicile connu geht es nicht primär um die Frage, ob man den Gesuchten zu fassen bekommt. Es geht auch nicht in erster Linie darum, wann dieses Ereignis stattfindet, obwohl der Wettlauf gegen die Zeit stets präsent ist. Vielmehr dreht sich Giovannis Thriller um die Milieubeschreibungen, die er liefert, in dem er seine beiden Ermittler in all die zahlreichen Räume und Gebäude von Zeugen eindringen lässt. Der alte Portier, der in einem ärmlichen Haus müde im Bett liegt, der schüchterne Ehemann, der von seiner Frau dominiert wird oder der Apotheker, der kaum einen Ton sagt, nur um schlafend in einer Ecke zu sitzen in dieser schummerigen Atmosphäre mitten in der Nacht. Giovanni liefert diese verschiedenen Atmosphären zuverlässig, schafft es sogar, innerhalb kürzester Zeit interessante Charaktere zu präsentieren, um sie notgedrungen bald wieder verschwinden zu lassen. Und natürlich klagt er das Polizei- und Justizsystem an, konfrontiert die arme Jeanne mit seiner eigenen, pessimistischen Realität. Das ist alles kein Spaß. Am Ende hat Jeanne das auf schmerhafte Weise begriffen.

Anmerkung: Der Film ist in Deutschland bislang (Stand: Mai 2011) noch nicht auf DVD erschienen.



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