Die große Illusion

Die große Illusion

(„La Grande Illusion“ directed by Jean Renoir, 1938)

“May the earth lie lightly upon our valiant enemy.”

Jean Renoirs Die große Illusion fügt sich nicht nur nahtlos in die Liste der fünf besten Gefängnisfilme ein, sondern hat zudem die wohl besten Chancen, diese Liste anzuführen. Renoirs Werk ist eine doppelbödige, sehr ehrliche Studie, die als Komödie beginnt, sehr bald aber sehr viel ernstere Züge annimmt, als es anfangs den Eindruck erweckt. Hier wird der Zuschauer nicht nur Zeuge kindischer Scherze von Kriegsgefangenen, sondern auch daran, wie sie an ihrem Schicksal zerbrechen und zu Grunde gehen.

Ein Gefangener, der von einer Kugel durchbohrt wurde, gesteht seinem Mörder, dem depressiven Major von Rauffenstein, dass er als Sterbender mehr zu beneiden ist, als die arme Seele des Schuldigen, der neben ihm weilt und den der Krieg komplett zerbrochen hat. Die große Illusion beschäftigt sich mit den indirekten Auswirkungen des Krieges, mit den emotionalen Folgen für alle Beteiligten, mit ihren gestörten Seelenleben, das sie wie eine Last mit sich herumschleppen müssen und was sie allmählich sich und ihren Feinden gegenüber milde gestimmt hat. Einer der Gefangenen, die an ihrer Situationen zu leiden haben ist Maréchal (Jean Gabin), der sich in deutscher Kriegsgefangenschaft befindet. Er hat das Glück, ein Zimmer mit anderen Leidensgenossen teilen zu können, die ihn einweihen, dass sie an einem Tunnel arbeiten, der sie in die Freiheit bringen soll. Nur noch wenige Wochen, so versprechen sie es sich, und sie könnten aus ihrer Gefangenschaft türmen. Um sich nebenbei die Langeweile zu vertreiben, organisieren sie Feste und Theaterveranstaltungen, sie verkleiden sich als Frauen und treiben Scherze, um von ihrer Situation abzulenken.

Mitten in dieser Zeit genügt ein Blick aus dem Fenster, um Soldaten zu sehen, die sich im Spiel gegenseitig jagen und die lakonische Bemerkung, dass Kinder Soldaten spielen und Soldaten sich wie Kinder verhalten, sagt über die Zustände in der Kriegsgefangenschaft alles aus. In solchen zynischen Kommentaren schildert Renoir nüchtern die Lage der Gefangenen, die nur versuchen, das Beste aus diesen Umständen zu machen. Das bedeutet auch Flucht. Unglücklicherweise werden jedoch alle Gefangenen, kurz vor Fertigstellung des Tunnels, in ein anderes Lager verlegt. Sie werden in eine Festung transportiert, die unter den Anweisungen von Major Rauffenstein (Erich von Stroheim) steht und aus der es unmöglich scheint zu fliehen. Langsam verlieren die Gefangenen ihre Träume und Illusionen und für Renoir ist es wahrscheinlich das Schlimmste, was passieren kann, denn in jeder ausweglosen Situation, in welcher die Charaktere nüchtern auf ihr Schicksal starren müssen, greifen sie sich gegenseitig an, verlieren alle Hoffnung, verletzen sich mit demütigenden Worten oder lassen erste Zweifel an der Kameradschaft sowie vor allem an sich selbst aufkommen.

Jean Renoir schreibt in seiner Autobiographie „Mein Leben und meine Filme“, die für den deutschsprachigen Bereich im Diogenes Verlag erschienen ist, dass er kein gutes Schauspiel machen könne, wenn er nicht dem Märchenhaften einen mehr oder weniger großen Platz einräume. Gewisse Aspekte seines Films, entstanden zu einer Zeit, in welcher der Regisseur noch fanatisch auf den nötigen Realismus in allen kleinen Details achtete, führen ins Phantastische und widersprechen somit dieser Realität. Für Renoir ist es die Zutat, einen packenden Film erzählen zu können. Das gesteht man dem Franzosen ein, der seine Inspiration für diesen Ansatz zu einem Großteil von Erich von Stroheim selbst erhielt, der den Major mit Bravour verkörpert und gegen alle Erwartungen an einen Menschen dieses Dienstgrads gebügelt ist. Gerade deshalb entwickelt er sich jedoch zu einem runden Charakter, zu einer einfühlsamen Persönlichkeit, bei der man nicht umhinkann, ihr einen gewissen Grad von Sympathie zuzusprechen, denn er als oberster Befehlshaber dieser Festung gehört er ebenfalls zu denen, die vom Krieg bzw. dessen Auswirkungen zerbrochen wurden und der somit in offenen Monologen über seine zerstörte Existenz philosophiert, über ein Leben, dass er sich anders vorgestellt hatte.

Bei seinen Gefangenen ist es ähnlich, nur gestehen die es sich nur selten ein, da sie noch Träume und Hoffnungen haben – sie sind voller großer Illusionen, die sie in eine erfolgreiche Flucht setzen, die es zu erreichen gilt. Wenn Renoirs Klassiker das Zusammenleben der Männer in ihrem Gefängnis nicht wie in einer alten, aber nicht weniger modernen Version von „Big Brother“ beleuchtet, mag einem auffallen, dass der wahre Hauptdarsteller nicht Stroheim ist und auch nicht Jean Gabin, sondern vielmehr dessen Gesicht, das in voller Ausdrucksstärke all das mitteilt, was der Zuschauer über den Charakter des Maréchal wissen muss, ohne dass dafür Worte notwendig sind. Die tiefen Augenringe und der verlorene Blick verraten alles über die endlosen Tage in Einzelhaft und das verschmitzte Grinsen zu Beginn alles über die Hoffnung, die langsam immer mehr zu zerstoben droht.

Mit diesen verlorenen Träumen, mit denen sich jeder beschäftigen muss, mit den Ablenkungsmanövern aufgrund dieses Problems könnte man La Grande Illusion wohl am ehesten als bittersüße Tragikomödie beschreiben, die sich zwar selber nicht zu ernst nimmt, sich aber sehr wohl der Bedeutung ihrer Aussage bewusst ist und angemessene Ernsthaftigkeit in geschickter, eleganter Balance von der Satire zu trennen weiß. Neben der Dramatik ist es auch eine harmlose Boshaftigkeit als sarkastischer Schabernack, den Renoir da treibt, wenn er die Gefangenen, die Helden des Krieges in Frauenkleidern die Marseillese singen lässt, da ihre Kollegen an der Front ein französisches Dorf zurückerobert haben. Seht euch diese Helden mit ihren blonden Perücken und den Fistelstimmen an! Dass Die große Illusion nie ihre wertvolle Warmherzigkeit verliert, ist ein gutes Zeichen für dieses Paradebeispiel, in filmischer Form eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen. Renoir ist der perfekte Märchenonkel. Seine Erzählung ist ohne Längen, schnörkellos, emotional ohne Kitsch, menschlich und dadurch vor allem eines: ehrlich – nie trivial.



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