Mein Essen mit André

Mein Essen mit André

(„My Dinner with André“ directed by Louis Malle, 1981)

„If you’re just operating by habit, then you’re not really living.”

Während den Zuschauern im Kino bei Transformers 3 via Spezialeffekte Gegenstände um die Ohren fliegen und man sich an dem Dekolletee der weiblichen Hauptdarstellerin  weiden kann, hat das DVD-Label Pierrot Le Fou Mein Essen mit André veröffentlicht – genau zur richtigen Zeit, wo sich die Aufmerksamkeitsspanne bei den Menschen immer mehr verringert. Denn in Louis Malles Werk gibt es keine Spezialeffekte, es gibt kaum Musik, keine Geräuscheffekte, keinen Sex, kein Blut, keine Gewalt. Es gibt zwei Menschen, die gemeinsam an einem Tisch sitzen und sich zwei Stunden lang miteinander unterhalten – über das Streben eines jeden Menschen, über seine Leiden, über die Selbsterfüllung und die Dinge, welche eben das erschweren. Vielleicht ist es wichtiger denn je, dass solche Filme nicht nur aufbewahrt, sondern auch regelmäßig gezeigt werden, in einer Gesellschaft, die durch eine immer rasantere Schnitttechnik in Filmen sich kaum noch konzentrieren kann.

Wallace Shawn spielt sich selbst. Er ist ein Autor für Bühnenstücke und versucht in New York zu überleben, wobei er noch nicht weiß, wie er seine ganzen Rechnungen bezahlen soll. Viel zum Leben hat er nicht, denn er ist mi seinen 36 Jahren noch am Kämpfen, dass seine Werke aufgeführt werden. Eines Tages erhält er einen Anruf. Es ist ein Angebot zu einem Abendessen mit André Gregory (der sich ebenfalls selbst spielt), einem ehemaligen Theater-Regisseur, der kürzlich von einem extensiven Selbstfindungs-Trip zurückgekommen ist. Wally will sich mit diesem Menschen eigentlich nicht treffen, denn er hat ihn seit Jahren nicht gesehen und ist sehr nervös. Dennoch entschließt er sich, zu diesem vereinbarten Treffen zu gehen. Und er soll es nicht bereuen. Schnell bricht das Eis zwischen den beiden Künstler und sie beginnen, sich zu unterhalten. Es wird ein langes, intellektuelles Gespräch über verschiedene Themen. Beide Darsteller erweisen sich deshalb als brillante Erzähler, weil sie scheinbar zusammenhanglose Themen geschickt verknüpfen können, sie leiten über zu neuen Denkanstößen, die sie mit vorherigen Gesprächsthemen in Beziehung setzen und auf diese Weise entsteht ein Gesprächsfluss, der scheinbar nicht zu durchbrechen ist.

Was als Beschreibung der Selbstfindungsodyssee Gregorys beginnt, der in einem Wald mit 40 polnischen Schauspielerinnen, die seiner Sprache nicht mächtig waren, Improvisation übte, bis der Morgen graute, wird übergeleitet in Fragen über die Traumwelt, in der so viele Menschen leben. Es geht um die Einwirkungen von außen auf ein jedes Individuum, die so zahlreich sind, dass wir sie längst nicht mehr erfahren und spüren können, dass wir an ihnen vorbeigehen, als hätten wir die wirkliche Welt längst verlassen. Denn wenn unser Leben nur noch aus Gewohnheiten bestehe, so sagt André Gregory, könne man es kaum Leben nennen. Unser Alltag wird zu Ansammlungen von Routine, der Bürger wird eingeschläfert, fällt in einen passiven Zustand, aus dem er fast nicht mehr zu befreien ist. Es ist ein Orwell‘scher Zustand, der längst eingetreten ist in dieser alptraumhaften Welt, so stimmt Wallace Shawn zu und auf diese Weise werden die Bälle zwischen den Gesprächspartnern fortwährend in steter Bewegung gehalten.

Filmkritiker Gene Siskel pflegte bei gewissen Filmen manchmal zu sagen: „Ich wünschte, es gäbe eine Dokumentation über diese Schauspieler, wie sie gemeinsam beim Essen sitzen.“ Louis Malles Film ist nichts anderes als das und deshalb eigentlich auch nur schwer als Film zu bezeichnen. Es gibt keine Spannungskurve, keine Gefühlsausbrüche oder gar eine Handlung. Es geht um zwei Menschen, die gemeinsam essen und über ihre Sicht der Welt philosophieren. Mein Essen mit André ist ein über alle Maßen faszinierender Film, bei dem eine Rezension müßig oder gar unnötig ist. Beide Schauspieler sind derart begabte Geschichtenerzähler, dass man zwei Stunden lang gebannt an ihren Lippen hängt, um anschließend überrascht feststellen zu müssen, dass der Abspann läuft. Wallace Shawn und André Gregory sind als Märchenonkel derart überzeugend und spannend, dass dieses, von ihnen selber geschriebenes Werk, hoffentlich für immer zu den am meisten faszinierenden und inspirierenden Streifen der Filmgeschichte zählen wird – poetisch, reichhaltig und tiefsinnig. Ein Dank gebührt auch dem Label Pierrot Le Fou, das dem Zuschauer dieses Unikum zugänglich gemacht hat inklusive zweier Interviews mit den Hauptdarstellern als Bonus. Leider ist der Ton der deutschen Synchronisation etwas arg dumpf geraten und sehr zum Bedauern einiger Zuschauer mag ebenfalls sein, dass nur deutsche, jedoch keine englischen Untertitel anwählbar sind. Ist das ein Grund, auf ein Essen mit André zu verzichten? Gott bewahre!!!



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