Ein mörderischer Sommer

Ein mörderischer Sommer

(„L’été meutrier“ directed by Jean Becker, 1983)

„Sie sah aus wie eine Puppe, die jemand in eine Ecke gestellt hatte und mit der niemand mehr spielte.“

Am Anfang schleppt ein bärtiger Mann ein Klavier über den Schnee. Er zieht das Klavier durch ein hässliches, graues Dorf, er zieht es über eine menschenleere Wiese, die von weißem Pulver tief bedeckt ist, er zieht es an einem Fluss vorbei und all diese Bilder haben etwas Magisches, da sie so absurd sind, dass wir uns über sie wundern. Sobald wir das Klavier aber bald wieder vergessen, bleibt es ein immer wiederkehrendes Symbol in diesem Film vom Franzosen Jean Becker. Das Klavier wird zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt und irgendwann erinnern wir uns an den Mann am Anfang, der das gewichtige Instrument unter Einsatz all seiner Kräfte durch die Gegend transportiert – ganz alleine. „Ein mörderischer Sommer“ ist jedoch in erster Linie nicht nur ein Film über das symbolträchtige Klavier, sondern es ist ein Film über Sex, Obsessionen und die Kraft der Verführung. Isabelle Adjani benutzt in ihrer Rolle den Geschlechtsverkehr, um zu bekommen, was sie will. Sie ist besessen davon, es ist ihr gleichzeitig aber auch zuwider und sie ekelt sich vor den Männern, die sie anfassen – was nicht heißt, dass sie mit ihren Reizen geizt.

Eliane (Adjani) ist ein komplexes Mädchen, das wohl niemand so ganz versteht und Jean Beckers Film versteht sich als Charakterstudie, als intensives Psychogramm dieser jungen Frau, die alle Eigenschaften in sich zu vereinen scheint. Sie ist gefühlskalt, krankhaft veranlagt, sie provoziert und beleidigt ihre Mitmenschen fortwährend, sie ist gleichzeitig arrogant, leidet aber auch spürbar an einem Minderwertigkeitskomplex. Ein solch interessanter Charakter ist vielseitig genug, um zwei Stunden unterhalten zu können – Isabelle Adjani tut mit einer erstklassigen schauspielerischen Leistung ihr Übriges. Sie ist das 19jährige Mädchen (Adjani war zum Zeitpunkt des Drehs bereits 27 Jahre alt), das mit ihrer Mutter – einer Deutschen – und ihrem Vater – einem Franzosen, der in einem Rollstuhl sitzen muss – in ein kleines Dorf nach Frankreich zieht, um sich dort häuslich niederzulassen. Eliane ist bildschön und die Männer wie auch die Frauen nehmen sofort Notiz von ihr, wenn sie mit ihrem wohlgeformten Gesäß, das sie zu formvollendet bewegen versteht, in das kleine Haus stolziert, welches sie mit ihren Eltern bezieht.

Es ist ein offenes Geheimnis, das bald jeder mit dieser verlockenden jungen Frau schläft. Es sei einfach, sie ins Bett zu kriegen, heißt es immer wieder, so hört es Pin-Pon (Alain Souchon), der sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Abend zu zweit mit dem Neuankömmling in seinem Dorf zu verbringen. Auch Jean Becker hat sich in Adjanis Figur verliebt und versteht sie – als einer der größten Pluspunkte dieses Films – stilsicher und verführerisch zu inszenieren, wenn er sie anfangs fast selbstironisch ausschließlich in Posen agieren lässt und ihr Haar mithilfe eines kleinen Ventilators leicht wehen lässt, wie es bei den Models gemacht wird, die sich für Männermagazine ablichten lassen. Irgendwann schafft es Pin-Pon, ein Abendessen mit seiner Angebeteten zu organisieren. Bereits da wird dem Automechaniker klar, dass mit Eliane irgendetwas nicht stimmen kann – unvorbereitet beginnt sie im Restaurant zu schreien, ehe sie verzweifelt in Tränen ausbricht und sich von ihrem Verehrer schließlich in eine Scheune bringen lässt, um dort mit ihm zu schlafen. Beide beginnen eine Beziehung und es dauert nicht lange, ehe die noch recht kindlich wirkende Frau bei ihm und seiner Familie einzieht. Was Pin-Pon jedoch nicht ahnt ist, dass Eliane nicht etwa in ihn verliebt ist, sondern einen teuflischen Plan verfolgt, den sie noch in diesem Sommer verwirklichen will – und dabei handelt es sich nicht (nur) um die Hochzeit mit dem Mechaniker, der den Boden anbetet, auf dem seine Verlobte wandelt…

Ganz langsam lässt Becker den Zuschauer erfahren, was hinter der Fassade der zierlichen und zerbrechlich wirkenden Eliane steckt, indem wir mit ihrem Geheimnis vertraut gemacht werden, das sie seit ihrer Geburt umgibt. Die schöne Französin hat etwas zu verbergen und selbst als man glaubt, alles zu wissen, was sie zu einem derart psychisch zerstörten Menschen gemacht hat, lässt Regisseur und Drehbuchautor Becker den Vorhang auf weitere Details fallen, die niemals übertrieben wirken, sondern ein zusammenhängendes, glaubhaftes Ganzes ergeben, dass wir ihm aus irgendeinem Grund abkaufen – auch, als er am Ende eine unerwartete Endung einwebt, die fast schon zu viel des Guten sein könnte. Doch das verzeihen wir ihm, denn schließlich hat er zwei Stunden mühsam darauf hingearbeitet und ein komplexes Psychogramm entworfen, das zudem mit einem ungewöhnlichen erzählerischen Mittel aufwartet: Becker wechselt die Erzählperspektiven mehrmals und schildert die Geschehnisse in diesem kleinen, verschlafenen Dorf inmitten den Sommers anfangs aus den Augen des verliebten Pin-Pon, den er seinen Monolog über den schwülen Bildern preisgeben lässt, ehe er Eliane selber zu Wort kommen lässt, bis deren Mutter sich in schwermütigen Gedanken über die Zukunft ihrer Tochter sorgt, die von allen Hure genannt wird und bereits mit jedem Mann in diesem für sie neuen Ort geschlafen zu haben scheint.

Auch diese wechselnden Erzählperspektiven funktionieren erstaunlich gut und verdeutlichen, wie die Geschehnisse aus den Augen einzelner Personen gesehen werden, was einigen Tatsachen eine komplett andere Bedeutung zu geben vermag. Hinter all dieser Berechenbarkeit von Adjanis Charakter schafft es der Regisseur zusätzlich – erstaunlicherweise – eine zärtliche Liebesgeschichte zu entwickeln, die zwar nur kurz anhält, aber immerhin zu berühren versteht, wenn die in Tränen aufgelöste Dorfschlampe Adjani mitten in einem Restaurant einen Nervenzusammenbruch erleidet und ihr der peinlich berührte Automechaniker seine warme Hand an die Wange hält, um sie zu trösten. Aber ist sie wirklich eine Schlampe? Ist sie dieses Monster, wie andere sie sehen? Fallen wir darauf rein, da wir stets andere Sichtweisen präsentiert bekommen? Oder ist der Hass, den Eliane in sich trägt, letztendlich nur verständlich und macht es das schließlich unausweichlich, dass sie in eine Obsession verfällt, weil sie sich ganz alleine in dieser Welt wiedersieht, in der Männer nur mit ihr schlafen wollen und die Frauen sie hassen, weil sie ihnen ihre Männer wegnimmt? Was ist es nur für böse Welt…



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8
von 10