(„Memorias de subdesarrollo“ directed by Tomás Guitiérrez Alea, 1968)
„My life is like a steril, ornamental plant.“
Die kubanische Revolution begann 1953 und endete 1959 mit der Einnahme der Städte Havanna und Santiago durch Fidel Castro und seine Anhänger, die das Gebiet von der Diktatur des vorherigen Herrschers befreiten. Landwirtschaft und Industrie werden nach dieser Einnahme schrittweise verstaatlicht, wodurch die Oberschicht, die sogenannte Bourgeoisie auswandert – zumeist nach Florida, wo die Kubaner noch heute zahlreich vertreten sind. In dieser Zeit setzt Guitérrez Aleas‘ Erinnerungen an die Unterentwicklung ein, ein wahrscheinlich einmaliges Experiment in der Verquickung von Dokumentarsequenzen und Spielfilm, das ein menschliches Drama mit Archivbildern und –videos geschickt zu verknüpfen weiß. Zusammen mit I am Cuba gilt dieses Werk als der wahrscheinlich wichtigste – und anspruchsvollste – Film, der jemals in Cuba entstand und ein sehr kritisches Bild einer Revolution zeichnet, welche gegen Ende gar in apokalyptischen Visionen geschildert wird, während der Regisseur der Umwälzung seines Landes sogar positiv gegenüber eingestellt war. Man muss nicht alle Details über dieses geschichtliche Geschehnis wissen, um den Film verstehen zu können – doch es hilft, um einen tieferen, intensiveren Blick in die Köpfe der Menschen gewinnen zu können, deren Schicksal geschildert wird – untrennbar unter Einwirkung dieser Revolution, die nicht zu leugnen oder zu verdrängen ist.
Man kann nicht unparteiisch sein in dieser Zeit und in diesem Land, das muss auch der Protagonist Sergio (Sergio Corrieri) erkennen. Das erinnert uns an Michael Caine, der in seiner Rolle in Graham Greenes Der stille Amerikaner sagt: „Irgendwann muss man Partei ergreifen, wenn man menschlich bleiben will.“ In Sergio scheint längst kein Leben mehr zu sein, obwohl er sich das einredet – bis zum Schluss, wo er fast zusammenbricht, weil er langsam begreifen muss, wie tot er eigentlich ist. Denn er hat nichts mehr – keine Freunde, keine Familie und keinen Job. Alle Menschen, die ihm etwas wert waren – Freunde wie Feinde und alle aus der Oberschicht – sind im Zuge der Revolution in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Nur er ist geblieben. Warum, das weiß er selber nicht so genau und obwohl sein Monolog sehr oft über den tristen schwarzweiß-Bildern zu hören ist, erfahren wir nur einmal etwas Tiefschürfendes über ihn, was seinen Zustand zu erläutern vermag. Als er seinen langjährigen Freund zum Flughafen begleitet, damit dieser in eine bessere Welt auswandern könne, sagt Sergio zu sich selbst, dass er eigentlich froh über dessen Verlassen Kubas sei. Sein Freund verkörpere auf eine unangenehme Weise all das, was Sergio an sich selber hasse. Auf diese Weise macht sich der tragische Held dieses Films die Revolution auf seine ganze eigene Art zunutze: während all die Menschen, von denen er glaubt, auf sie verzichten zu können, in ein anderes Land verschwinden, bleibt er allein zurück – in der Hoffnung, sein Leben nun sorgenfrei genießen zu können.
Das Gegenteil ist der Fall. Es geht ihm nicht um Idealismus, er bleibt nicht in diesem Land, weil ihm die Ziele der Revolution gefallen – es geht ihm um seinen eigenen Nutzen. Doch die neue Einsamkeit macht ihm zu schaffen. Er begeht einen Fehler. Eines Nachmittags spricht er eine attraktive, minderjährige Dame an, die ein Termin zum Vorsprechen für eine Filmrolle hat. Sergio begleitet sie und kann, nach einiger Mühe Elena (Daisy Granados) dazu überreden, ihm in seine Wohnung zu folgen, wo er schließlich mit ihr schläft. Dass er sie dabei ihrer Jungfräulichkeit beraubt, scheint ihn nicht zu stören. Überhaupt stört ihn an diesem Punkt seines Lebens noch wenig, doch bald wird ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Wie ein immer über ihm schwebendes Damoklesschwert als moralischer Zeigefinger wird ihm das Verhältnis mit Elena zum Verhängnis. Distanziert nehmen wir Anteil an seinem Schicksal – obwohl wir ihn nie einschätzen können. Wir wissen nicht, was in ihm vorgeht oder zumindest sollten wir uns nicht allzu sicher sein. Während Elena die Verfolgung um das weiche Bett als Aufwärmung vorm Liebesspiel empfindet und kindisch kichert, wird Sergio rasend vor Leidenschaft. Man könnte, würde man sich am anderen Ende des Bettes befinden, Angst vor ihm haben. Oder ist es doch alles nur ein Spiel?
Regisseur Tomás Guitiérrez Alea liebt das Spiel. Seine Hauptfigur Sergio ist interessant genug, um aus diesem zugegebenermaßen nicht gerade anspruchslosen und politischen Film ein doch recht kurzweiliges Erlebnis zu machen, das zu den ungewöhnlichsten Werken der Filmgeschichte gezählt werden kann. Memories of Underdevelopment ist eine erfrischende Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm und nicht selten verschwimmen die Grenzen, wenn der Regisseur eben diese auslotet und zu überschreiten liebt, wenn er mit seiner Handkamera Flughäfen besucht und die Reisenden überrascht und neugierig in die Kamera schauen. Was ist Archivmaterial, was ist neu, was ist Dokumentation, was ist Realität? Sergio verliert sich nicht selten in Tagträumen, wenn er in gar poetischen Bildern davon schwärmt, mit seiner Haushälterin in einem See Liebe zu machen – Tomás Guitiérrez Alea lotet das dementsprechend aus, inszeniert ungewöhnlich und bezieht den Zuschauer direkt mit ein. Wenn Sergio zum ersten Mal Elena anspricht, ist sein Gesicht nicht zu sehen – sein Gesicht ist die Kamera, wir erleben die Situation aus seinem Blickwinkel, Elena lächelt uns an, gefolgt von mehrmaligem Wiederholen einzelner Sequenzen, die der Regisseur in Einzelbilder auflöst und dem Zuschauer serviert, dem vor solcher Kreativität kaum langweilig werden kann.
Erinnerungen an die Unterentwicklung beschäftigt sich mit dem Leben eines armen Mannes, der alles verloren hat, weil er es verlieren wollte, bis er merkt, dass er einen Fehler getan hat. Es geht um ihn, es geht um die Revolution, es geht um die Auswirkungen der Revolution auf ihn. Wie beeinflusst die Revolution, wie beeinflussen die politischen Zustände sein Wesen und sein Handeln? Die Revolution vereinsamt ihn, das ist sein Fazit, aber ist er daran nicht selber schuld, dieser wenig sympathische Antiheld, der die Frauen in seinem Leben nach seinen Vorstellungen ändern will und Freunde, von denen er übersättigt ist, einfach los wird, weil die politischen Umstände es zulassen? Die Revolution bedeutet der Tod, das ist sein Fazit. Doch da ist er innerlich selber schon lange nicht mehr unter den Lebenden.
Anmerkung: Dieser Film ist bislang (Stand: Juli 2011) noch nicht in Deutschland auf DVD erschienen.
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