(„Alpeis“ directed by Yorgos Lanthimos, 2011)
Es gibt kein Gebirge wie die Alpen, so erfahren wir in dem Film. Denn diese können alle anderen Berge ersetzen, aber niemand kann die Alpen ersetzen. Eine befremdliche Vorstellung. Warum sollten Berge andere ersetzen? Und dennoch passt dieses Bild gut in diesen kleinen, sonderbaren Film aus Griechenland. So wie das Gebirge, so auch die gleichnamige Organisation: vier Menschen – zwei Männer, zwei Frauen – die einen ganz besonderen Dienst anbieten.
Wer schon einmal jemanden verloren hat, einen Menschen, der einem nahesteht, kennt die Bedeutung von Erinnerungen. Wir denken an die gemeinsame Zeit zurück, spielen vergangene Situationen im Kopf nach, nicht bereit, den anderen gehen zu lassen. Zumindest noch nicht. Alte Fotos, vielleicht auch Gegenstände, die dem anderen gehörten – wir greifen nach all dem, weil sie unsere letzten Verbindungen darstellen. Unser etwas armseliger Ersatz. Noch einen Schritt weiter gehen die vier Alpenberge, denn sie machen genau das: die Verstorbenen ersetzen. Dafür schlüpfen sie in deren Kleidung, lernen deren Verhaltensweisen und spielen alte Szenen nach.
Menschen, die Verstorbene für Angehörige nachmachen, das kann schnell makaber werden. Oder auch rührselig. Doch Regisseur Yorgos Lanthimos geht einen anderen Weg. Natürlich, traurig ist der Film schon. Teils sogar todtraurig. Wenn eine inzwischen erblindete alte Frau sich mit der falschen Freundin unterhält, während der Ersatzehemann in der Küche steht, tut das fast schon physisch weh. Und natürlich geht einem auch das Schicksal des Ehepaares nahe, das seine junge Tochter verloren hat. Die immer so fröhlich war, so lebendig. Eine begeisterte Tennisspielerin.
Und doch: Mit einem Psychogramm hat Alpen herzlich wenig zu tun. Während wir über die Toten zumindest ein wenig erfahren, bleiben die Lebenden erstaunlich leblos. Von unseren vier Bergen wissen wir nicht einmal, wie sie heißen. Ähnlich leer auch die kleinen Privatvorstellungen für die Hinterbliebenen. Völlig mechanisch mit vorformulierten Texten gleichen sie Ritualen, die wir immer wieder wiederholen, dabei aber längst vergessen haben, was sie eigentlich bedeuten. Auf diese Weise wirkt der Film so surreal, dass eine richtige Anteilnahme an den Figuren äußerst schwer ist. Sie sind so sehr in ihrer eigenen Welt gefangen, dass es keinen Zugang von außen gibt.
Ob die vier Berge den Verbliebenen mit ihren einstudierten Darstellungen dabei einen so großen Dienst erweisen, ist schwer zu beurteilen. Vor allem aber schaden sich die vier zunehmend selbst. Das trifft besonders auf die einfühlsame Monte Rosa (Angeliki Papoulia) zu. Was zunächst ein Job wie jeder andere (oder auch nicht) war, entwickelt bei ihr eine gefährliche Eigendynamik. Plötzlich geht es ihr nicht mehr um das Geld, sondern um – tja was eigentlich? Emotionale Nähe? Das Verschwinden in einer anderen Person? Das Vergessen des eigenen Selbst?
Überhaupt: Erklärungen sind Mangelware in dem Drama. Antworten wird der Zuschauer fast keine finden, dafür jede Menge existenzielle und unbequeme Fragen. Trotz des ein oder anderen absurd-komischen Moments ist Alpen also eher nichts für Leute, die nach launigem Material für den nächsten Videoabend suchen. Die dürften schnell frustriert sein oder schlicht den Zugriff nicht finden. Stattdessen richtet sich der fast schon experimentelle Film ganz klar an Zuschauer, die bereit sind, etwas zu investieren. Dazu passt auch, dass auf eine Synchronisation verzichtet wurde und wir auf Untertitel angewiesen sind, um die seltsame Welt der Alpen zu erkunden.
Alpen ist seit 1. Februar DVD erhältlich
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