(„Great Expectations“ directed by Mike Newell, 2012)
Düstere oft trostlose Beschreibungen der Gesellschaft, dazu wahlweise beißende Satire oder überbordende Sentimentalität – so lautete das Erfolgsrezept von Charles Dickens, dessen Romane und Geschichten zu den meistgelesenen des 19. Jahrhunderts gehören. Und zu den am häufigsten verfilmten. Über 200 Kino- und Fernsehadaptionen wurden gezählt und noch immer kommen neue hinzu. Eine davon ist die Neuverfilmung von „Große Erwartungen“, die letztes Jahr – pünktlich zum 200. Geburtstag des englischen Autors – im Kino lief. Wie es sich für einen Jubiläumsfilm gehört, wurde hier nicht groß am Ursprungsmaterial herumgedoktert, weshalb die Geschichte den meisten auch bekannt sein dürfte.
Im Mittelpunkt steht noch immer der Waisenjunge Pip, der nach dem Tod seiner Eltern bei seiner Schwester und dessen Mann, dem gutmütigen wenn auch recht simplen Schmied Joe, auf dem Land aufwächst. Und dort wäre er wohl auch bis zu seinem Lebensende geblieben, gäbe es da nicht zwei entscheidende Begegnungen. Zunächst trifft er am Fluss auf den entlaufenen Sträfling Abel Magwitch (Ralph Fiennes), den er mit Essen und einer Feile versorgt. Später macht er die Bekanntschaft von Miss Havisham (Helena Bonham Carter), einer exzentrischen Dame, die sich in ihrem Haus eingesperrt hat und noch immer ihr Brautkleid trägt, in dem sie einst sitzengelassen wurde. Und eben in diesem Haus lernt er seine große Liebe Estella kennen, die Adoptivtochter von Miss Havisham.
Der Ziehsohn eines Schmiedes und die Adoptivtochter einer vermögenden Frau – das passte schon im 19. Jahrhundert nicht wirklich zusammen. Und so sieht es erst danach aus, als wäre Große Erwartungen die Geschichte einer unmöglichen Liebe. Bis der mittlerweile erwachsene Pip (Jeremy Irvine) das Angebot eines unbekannten Gönners bekommt, auf dessen Kosten ein neues Leben in London anzufangen. Mit genug Geld in der Tasche und der entsprechenden Bildung soll so aus ihm ein Gentleman werden. Natürlich nimmt Pip dieses Angebot an und trifft dort auch auf Estella (Holliday Grainger) wieder. Glückliche Fügung oder steckt da mehr dahinter? Ganz so einfach wie vorgestellt entwickelt sich die Romanze nämlich trotz der geänderten Vorzeichen nicht weiter …
Wann immer ein großer Klassiker neu verfilmt wird, stellt sich unweigerlich die Frage: Braucht es das? Was hebt diese Versionen von den vielen bereits existierenden ab? Das ist hier nicht so ganz einfach zu beantworten. Während die Umsetzung von 1998 mit Ethan Hawke und Gwyneth Paltrow es mit radikaler Modernisierung versuchte – eine Verlegung der Handlung ins New York der 1990er und eine Unterlegung mit hipper Alternativemusik inklusive – geht Regisseur Mike Newell den entgegengesetzten Weg. „Hip“ ist hier von der Ausstattung über die Sprache bis zur Inszenierung gar nichts. Vielmehr soll sich Große Erwartungen an die Freunde des klassischen Stoffs richten, an die Liebhaber von Kostümdramen. Und an Leute, die sich für die im 19. Jahrhundert so typischen „Zufälle“ und Verwicklungen in den Geschichten erwärmen können. Da war die kürzliche Neuverfilmung von Wuthering Heights – ein vergleichbarer Klassiker der englischen Literatur – doch deutlich eigenständiger.
Wenn schon das Äußere nur wenig zum Vermächtnis von Dickens beiträgt, so zumindest die Schauspieler. Vor allem Helena Bonham Carters Darstellung der exzentrischen und von der Zeit vergessenen Miss Havisham ist geradezu rührend geworden, das Porträt einer in Trauer erstarrten Frau, die noch immer auf ihren großen Tag wartet. An den Veteranen Ralph Fiennes und Robbie Coltrane (als Pips Mentor in London) ist sowieso nichts auszusetzen. Relativ unbekannt sind hingegen die beiden Hauptdarsteller, aber sie erledigen ihre Arbeit ebenso kompetent wie die Altstars. Da auch sonst keine Fehler gemacht wurden, ist die neueste Fassung des Klassikers zwar nicht bahnbrechend, dafür umso gefälliger geworden.
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