(„The Tall Man“ directed by Pascal Laugier, 2012)
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Schreckfiguren wie diese gehörten von Anbeginn an zum festen Ensemble von Sagen und Märchen. Ob Knecht Ruprecht oder der Butzemann, der Schneider aus dem Struwwelpeter oder der Böse Wolf – unsere Folklore ist voller fürchterlicher Kreaturen, die vor allem dazu da sind, unartige Kinder zu bestrafen. Hinzu kommen unzählige Figuren, die Teil regionaler Mythen und Geschichten sind. Auch das ehemalige Bergarbeiterstädtchen Cold Rock hat eine solche Figur: den „Tall Man“, der einem Aberglaube zufolge Kinder entführt und in den anliegenden Wald verschleppt.
Lange Zeit ist diese Geschichte in Vergessenheit geraten. Aber wer könnte es den Bewohnern der kleinen abgelegenen Stadt übel nehmen? Seitdem die Mine geschlossen wurde, haben sie ganz andere Sorgen. An allen Ecken und Enden fehlt es an Geld, die Gebäude verfallen, nicht einmal eine richtige Schule gibt es mehr – es herrscht die kollektive Trostlosigkeit, die Träume von einst sind längst im Suff ertrunken. Als jedoch immer mehr Kinder spurlos verschwinden, ist die alte Legende plötzlich wieder in aller Munde.
Manche wollen den geheimnisvollen Mann sogar gesehen haben, wie Jenny (Jodelle Ferland). Jennys Familie ist das Paradebeispiel für den zunehmenden Verfall von Cold Rock: Der Freund der Mutter ist Alkoholiker, gewalttätig und hat sogar Jenny Schwester vergewaltigt. Kein Wunder also, dass sich das Mädchen weigert zu sprechen. Dafür malt sie unentwegt in ihr kleines Notizbuch, darunter auch Bilder vom Schwarzen Mann. Julia wiederum (Jessica Biel) glaubt nicht an diese Figur, kümmert sich lieber um die Kranken, nachdem ihr Mann – der angesehene Arzt der Stadt – verstorben ist, versucht ihnen wieder eine Perspektive zu geben. Als jedoch eines Nachts ihr Sohn David (Jakob Davies) entführt wird, muss sie sich auf einmal doch mit der Schreckengestalt auseinandersetzen.
Meist sind es Dutzende pro Woche, teils weit über hundert – über einen Mangel an Neuerscheinungen auf dem Filmmarkt braucht sich weiß Gott niemand zu beklagen. Für Vielseher ist das natürlich großartig, denn gleich, was nun das eigene Lieblingsgenre ist, für Nachschub ist fast ständig gesorgt. Einen entscheidenden Nachteil hat diese Filmflut aber auch: Man hat irgendwann das Gefühl, alles schon einmal woanders gesehen zu haben. Das ist vor allem für die Genres ein Problem, bei denen es in erster Linie auf Spannung ankommt: Horror und Thriller. Denn wie soll man bei einer Geschichte mitfiebern, wenn man vorher schon weiß, wie sie ausgehen wird?
Für Freunde von Mysterythrillern habe ich daher eine gute Nachricht: The Tall Man ist anders. Vermutungen und Erwartungen hat man als geneigter Grübler natürlich, ja, doch kaum einer dürfte am Ende die Wendungen des kleinen amerikanischen Films vorhergesehen haben. Gerade wenn man denkt, man hätte endlich das Spiel durchschaut, passiert wieder etwas Unvorhergesehenes. Ähnlich wie kürzlich der spanische Geheimtipp Painless werden hier zudem noch fleißig Genregrenzen beiseite gewischt: Was als reiner Thriller beginnt, entwickelt sich mit der Zeit immer mehr zu einem Drama, die anfängliche Spannung wird mit tragischen Elementen verwoben. Diese Vielfalt ist aber ein zweischneidiges Schwert, so mancher Zuschauer dürfte nach der Auflösung enttäuscht sein. Hinzu kommt, dass nicht jede Wendung wirklich überzeugt und die Geschichte an einigen Stellen konstruiert wirkt.
Überzeugend ist hingegen der Rest des Films: Die Bilder sind sehr schön geworden, die Schauspieler machen ihre Sache gut, auch das Tempo stimmt, die in mehrfacher Hinsicht düstere Atmosphäre sowieso. Wer offen ist für Neues, nichts von Genregrenzen hält und bei aller Spannung sich auch gerne mit tragischen Schicksalen und Fragen auseinandersetzt, darf also ruhig einen Blick auf das Hollywooddebüt des französischen Regisseurs Pascal Laugier (Martyrs) werfen. Wer schon länger auf der Suche nach einem Film ist, der selbst Veteranen noch überraschen kann, muss es sogar.
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