(„L’Enfant d’en Haut“ directed by Ursula Meier, 2012)
Fast 40 Prozent in Italien und Portugal, über 50 in Spanien, sogar knapp 60 in Griechenland: Die riesige Welle an arbeitslosen Jugendlichen, die über Südeuropa hinwegspült, ist allseits bekannt. Dabei müssen wir gar nicht so weit schauen, das Elend ist oft viel näher, als wir ahnen. Manchmal versteckt sich Armut sogar genau da, wo wir sie am wenigsten erwarten: mitten unter den Reichen. Zumindest fällt Simon (Kacey Mottet Klein) nicht sonderlich auf, wenn er sich unter die wohlhabenden Touristen im Schweizer Skigebiet mischt. Warum auch? Der 12-Jährige ist freundlich, aufgeweckt, sympathisch. Ein netter Junge, der sich wie so viele andere am Wintersport erfreut und dabei schnell zu anderen Kontakte knüpft, etwa zur amerikanischen Besucherin Kristin (Gillian Anderson).
Was Kristin aber ebenso wenig wie alle andere ahnt, ist dass Simon gar nicht wegen des Sports da ist sondern wegen der Ausrüstung. Eben die klaut er nichtsahnenden Touristen, um sie anschließend an andere weiterzuverkaufen. Nicht weil Simon gierig ist, neue Markenklamotten oder Videospiele will. Nahrung ist es, was er will. Toilettenpapier. Die einfachen alltäglichen Dinge, die für andere ganz normal, für ihn und seine Schwester Louise (Léa Seydoux) aber unerschwinglich sind. Gemeinsam leben sie in einer kleinen Wohnung und müssen sich ohne Eltern durchs Leben schlagen. Das klappt mal besser, mal schlechter. Immerhin sind Simons Raubtouren recht erfolgreich, so erfolgreich dass er mit dem Küchengehilfen Mike (Martin Compston) regelmäßig Geschäfte macht. Doch auf Dauer kann das Ganze natürlich nicht gutgehen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Katastrophe eintritt.
Ein kleiner Junge, der stehlen muss, um zu überleben – da liegt ein Angriff auf die Tränendrüse nahe. Umso erstaunlicher, dass der Film völlig ohne Kitsch oder Sentimentalität auskommt. Traurig? Ja, das ist er. Aber Winterdieb verströmt eine andere Form von Traurigkeit. Nicht die, die uns im Kino schluchzend zum Taschentuch greifen lässt. Eher die, die uns befällt, wenn wir an Obdachlosen vorbeilaufen, an Krüppeln, Totkranken, und lieber schnell in eine andere Richtung schauen. Dabei ist es gar nicht mal die drohende Armut, die zu Herzen geht, denn dafür geht es Simon und Louise – noch – zu gut. Erschreckender ist vielmehr die Beziehung zwischen den beiden. Der Junge sehnt sich nach nichts mehr als der Zuneigung seiner großen Schwester. Nach Anerkennung. Doch Louise bleibt meist reserviert, will oder kann keine Gefühle für ihn zeigen – so wie sie auch sonst recht wenig in ihrem Leben auf die Reihe bekommt.
Diese Geschichte um emotionale Kälte und Armut inmitten der glitzernden und oberflächlichen Skiwelt der High Society spielen zu lassen, verstärkt die Wirkung noch weiter. Ein bleischweres Drama wie etwa Gnade kürzlich ist der Schweizer Film trotz der eisigen Umgebung aber nicht geworden. Oft genug scheint auch Humor durch, der jedoch ebenso leise ausfällt wie die traurigen Szenen. Alltagsmomente, gerade zwischen den einzelnen Protagonisten, unspektakulär aber eben witzig. Und authentisch. Das ist natürlich vor allem ein Verdienst der Schauspieler, die den an und für sich banalen Szenen sehr viel Leben und Persönlichkeit einhauchen. Léa Seydoux, die schon in einigen großen Hollywoodfilmen zu sehen war (u.a. Inglourious Basterds und Mission: Impossible – Phantom Protokoll) überzeugt als depressiv veranlagte Louise. Glanzpunkt von Winterdieb ist aber Newcomer Kacey Mottet Klein als schlitzohriger und doch sympathischer Simon, der die Rolle des Erwachsenen übernehmen muss, weil es sonst niemand tut.
Aber auch Ursula Meier konnte hier beweisen, dass ihr viel gelobter Debütfilm Home kein einmaliger Treffer war. Ein Massenpublikum wird die Schweizer Regisseurin mit Winterdieb zwar eher nicht erreichen, dafür ist der Film letztendlich zu unspektakulär, weshalb er letztes Jahr auch größtenteils ignoriert wurde, als er in die Kinos kam. Wer aber leise Alltagsgeschichten zu schätzen weiß, sollte sich davon nicht abhalten lassen, denn er würde einen wirklich gut gemachten Vertreter verpassen. Und einen, der jetzt schon neugierig macht, was Meier in Zukunft sonst noch so auf die Leinwand bringt.
Winterdieb ist seit 24. Mai auf DVD erhältlich
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