(„Himizu“ directed by Sion Sono, 2011)
Eine Mangaverfilmung, das muss doch bunt, grell und voller Monster oder Roboter sein. Nein, muss es nicht, dafür ist Himizu das beste Beispiel. Hier ist nichts grell, nur wenig bunt und die Monster stecken wenn dann in den Köpfen.
Wir alle haben sicher noch die erschreckenden Bilder aus dem März 2011 im Kopf, als erst ein Erdbeben und dann ein Tsunami das High-Tech-Land Japan in die Knie zwang. Mehr als 100.000 Menschen mussten damals die Region um Fukushima verlassen, manche für immer. Zu viel war zerstört, verseucht, war unbewohnbar geworden.
Mit eben diesen Bildern beginnt auch Himizu. Das Mädchen Keiko (Fumi Nikaidô) streift durch die Müllberge, die verwüsteten Überbleibsel, das was Erdbeben und Tsunami den Menschen gelassen haben. Und sie zitiert einen französischen Dichter.
Ich kann rosige Wangen von blassen unterscheiden
Ich kenne den alles verzehrenden Tod
Ich kenne alles
Alles, nur mich nicht
Doch nicht um sie dreht sich das japanische Drama zunächst, sondern eine Reihe von Menschen, die in behelfsmäßigen Hütten oder Zelten hausen, nachdem ihnen die Katastrophe alles genommen hat. Menschen, die sich darüber freuen, wenn sie irgendwo ein leeres Ölfass finden, das sie als Badetonne verwenden können. Das weckt Erinnerungen an Beasts of the Southern Wild, in dem ebenfalls eine Gruppe von Aussteigern den Müll der Zivilisation als Behausung verwendete. Während dort jedoch das Leben inmitten eines Müllberges gefeiert wurde, ist Himizu das komplette Gegenteil. Hoffnung? Freude? Zukunft? Davon ist hier nur wenig zu spüren, nahezu jede Figur hier ist innerlich komplett zerstört.
Das trifft besonders auf den 14-jährigen Yuichi (Shôta Sometani) zu. Der Vater verprügelt ihn regelmäßig, hält ihm vor, wie viel besser er selbst es hätte, wenn der Sohn damals ertrunken wäre. Dann hätte er wenigstens Geld von der Versicherung bekommen. Ganz so rabiat ist die Mutter zwar nicht, kümmert sich aber ebenso wenig um ihn, zieht die Gesellschaft wechselnder Liebhaber vor. Dafür bekommt er umso mehr Aufmerksamkeit von Keiko, die in ihrer obsessiven Verehrung für ihren Mitschüler jedes Maß verloren hat. Alles, was er im Unterricht sagt, wird notiert und auf großen Schriftrollen in ihrem Zimmer aufgehängt, wie Gebetsrollen. Immer wieder rückt die Beziehung der beiden in den Mittelpunkt; ihre Suche nach seiner Nähe, seine Suche nach sich selbst. Ein gewöhnliches Leben will er. Aber was heißt schon gewöhnlich?
Die Verfilmung von Minoru Furuyas Manga war längst im vollen Gange, als die Fukushima-Katastrophe geschah. Kurzerhand entschloss sich Regisseur Sion Sono, seine Geschichte in die Gegenwart zu verlegen, anstatt ein Endzeitdrama wie in der Vorlage zu machen. Für die Handlung wäre das nicht notwendig gewesen, aber die gespenstischen Bilder passen gut zu einer Atmosphäre, die von Hoffnungs- und Trostlosigkeit geprägt ist. Und zu einer Gesellschaft, die nicht mehr weiß, wer sie noch ist. „Sag mir, wer ich bin“, schreit einer der Jugendlichen verzweifelt, nachdem sein Mordversuch gegenüber einem anderen fehlgeschlagen ist.
Brutalität ist in Himizu fast überall zu sehen. Während des ganzen Films wird geschlagen, getreten, zugestochen. Doch noch schlimmer ist die Brutalität auf der psychologischen Ebene, etwa wenn Keikos Mutter zu Hause einen Galgen errichtet, ihn in leuchtenden Farben anstreicht und dekoriert. Ein Galgen, an dem sich die Tochter erhängen soll, damit sie dem Glück der Familie nicht mehr im Weg steht. Leichte Kost ist Sonos neuestes Werk also nicht, ist aber ähnlich wie Pieta vor einigen Wochen ein bedrückendes und faszinierendes Porträt von Menschen, für die es in der Zukunft keinen Platz mehr gibt. Übertrieben, ja, teils grotesk, aber auch ein Film, der einem nahe geht und lange nachwirkt.
Himizu ist seit 28. Juni auf DVD und Blu-ray erhältlich
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