(„Le roi et l’oiseau“ directed by Paul Grimault, 1979)
Es war einmal ein König, freigiebig, bei allen beliebt, selbstlos. Doch nicht der steht im Mittelpunkt von Der König und der Vogel, sondern Charles V + III = VIII + VIII = XVI von Takicardie. Und der hat nicht nur ein Ego, gegen das selbst jenes des Sonnenkönigs verblasst – er hat eine Fabrik, das ausschließlich Abbilder von ihm fertigt, ein eigenes Museum huldigt ihm mit grotesken Statuen – sein Mitgefühl hält sich zudem stark in Grenzen. Als ein Hofmaler es wagt, sein Porträt naturgetreu anzulegen und damit auch das Schielen des Monarchen festzuhalten, fällt der Künstler in Ungnade. Und ins Bodenlose gleich mit, Falltür sei Dank.
Nur eine Person schafft es, das Herz des Tyrannen zu erweichen: die Schäferin. Eigentlich ist die hübsche Dame kein Mensch, sondern nur ein Bild, aber in dem Königreich verschwimmen sehr schnell die Grenzen zwischen Objekt und Lebewesen. Denn auch das Abbild des Königs sowie eine große Reiterstatue erwachen zum Leben. Und nicht zuletzt das Bild eines Schornsteinfegers. Er ist es, mit dem die Schäferin zusammen sein möchte. Und so fliehen die beiden aus den geheimen Gemächern des Königs, verfolgt von dessen persönlicher Garde, und versuchen die Freiheit zu erlangen. Unterstützt werden die beiden von einem großen farbenfrohen Vogel, der ebenfalls mit Charles ein Hühnchen zu rupfen hat.
Als Hayao Miyazaki und Isao Takahata, die Gründer des legendären japanischen Animationsstudios Studio Ghibli, mal nach Vorbildern gefragt wurde, nannten sie beide unter anderem Paul Grimault und diesen Film. Dabei bezogen sich beide auf eine sehr frühe Fassung von Der König und der Vogel. Ursprünglich arbeitete Grimault schon Ende der 40er zusammen mit dem französischen Dichter Jacques Prévert an der Adaption von „Die Hirtin und der Schornsteinfeger“, einem Märchen von Hans Christian Andersen. Diese Adaption kam 1952, nach diversen rechtlichen Streitigkeiten, in einer unvollendeten Version ins Kino. Unzufrieden mit dem Ergebnis setzte sich Grimault 25 Jahre später noch einmal an sein Herzprojekt, überarbeitete alte Szenen und fügte viele neue hinzu. Die Endfassung von 1979 bestand so zur Hälfte aus Archivmaterial, zur Hälfte aus neuem.
Dieses Stückwerk lässt sich bei genauerem Hinsehen auch erkennen, wenn alte und neue Szenen eine leicht andere Optik haben. Aber auch die Spätszenen können ihr Alter nicht verbergen. Die Zeichnungen sind oft wenig detailreich, die Hintergründe starr und Computernimationen haben hier ohnehin nichts verloren. Doch was die Stimmung und die dichte Atmosphäre angeht, ist Der König und der Vogel bis heute zeitlos geblieben. Zum einen hat der Animationsfilm bis heute eine deutlich surreale Wirkung. Anders sonst üblich, ist das Schloss hier nicht horizontal, sondern vertikal gebaut. Um zu seinen Gemächern zu kommen, muss der König zu Beginn der Geschichte einige Kilometer mit einem freistehenden Aufzug in die Höhe fahren, an einem Wirrwarr aus Treppen und Türmen vorbei. Die einzelnen Zwischenstockwerke sind deutlich den Gemälden von Giorgio de Chirico nachempfunden, der mit seinen weitläufigen und menschenleeren Szenerien ein Vorläufer des Surrealismus war.
Auch im Königreich Takicardie tummelt sich bis auf die Bediensteten kaum jemand. Erst zum Ende, wenn die Flüchtlinge die Unterstadt erreichen, begegnen sie anderen Menschen. Dort bricht die zunächst nur angedeutete melancholische Grundstimmung dann vollends hervor. Keiner der Bürger dort hat je die Sonne gesehen, erfahren erst durch die lebendig gewordenen Bilder und den Vogel, welche Gestirne über den Himmel wandern. Und auch Vögel kannten die Untermenschen bislang nur aus Erzählungen. Erzählungen sind es dann auch, die die Bewohner am Leben erhalten, der Traum von einer anderen Welt, und auch Musik spendet Trost: Der blinde Akkordeonspieler musiziert so herzerweichend, dass selbst die wilden Löwen der Arena weinen müssen.
Überhaupt spielt Musik eine wichtige Rolle in dem Zeichentrickklassiker, Grimault ließ dem polnischen Komponisten Wojciech Kilar (Bram Stoker’s Dracula, Der Pianist) völlig freie Hand. Der bedankte sich mit einem wundervollen Score, der mal schräg, mal verspielt, oft aber schwermütig ist und die besondere Atmosphäre des Film gut einfängt. Zusammen mit den sonderbaren Bildern und der einfachen, politisch angehauchten Geschichte entstand so ein Werk, das heute zu den großen Meilensteinen des Animationsfilms zählt, auch wenn er nie die Popularität vergleichbarer Vertreter genoss – vermutlich weil trotz Quasi-Happy-Ends die Stimmung zu ernst war. Umso schöner, dass Der König und der Vogel mehr als 30 Jahre nach Erscheinen zum ersten Mal auf DVD erhältlich ist. Zeichentrickfans sollten das zum Anlass nehmen, ihre Sammlung zu erweitern. Aber auch, wer für den Nachwuchs einen etwas anderen Kinderfilm sucht, darf ruhig die Reise nach Takicardie antreten.
Der König und der Vogel ist seit 5. September auf DVD erhältlich
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