(„Après Mai“ directed by Olivier Assayas, 2012)
Manche schaffen es tatsächlich zu entkommen, retten sich in Nebenstraßen oder verstecken sich in Treppenhäusern. Andere haben weniger Glück, werden im Tumult zu Boden gerissen und daraufhin von den Polizisten wenig zimperlich niedergeprügelt; erschreckende Szenen, nicht aus einem Polizeistaat, nicht aus einer fernen Diktatur. Nein, Die wilde Zeit gibt gleich zu Beginn einen ebenso heftigen wie eindrucksvollen Einblick ins Frankreich der frühen 70er Jahre, als rebellische Studenten sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten.
Doch ein Politdrama soll der Film nicht sein, keine historische Aufarbeitung dieser Zeit, sondern eine persönliche. Après Mai heißt er im Original und das ist hier Programm: Regisseur Olivier Assayas folgt einer Reihe von Jugendlichen, die einige Jahre nach dem legendären Mai 1968 ihren Weg suchen. Hauptfigur ist der junge Gilles (Clément Métayer), der kurz vorm Ende seiner Schulzeit steht und aktives Mitglied linker Gruppierungen ist – sei es geistig für eine Zeitung oder auch körperlich, als er mit anderen nachts seine Schule mit Postern und Graffiti verwüstet. Selbst vor Molotow-Cocktails scheut er nicht zurück.
Doch dieser explosive Einstieg gibt immer mehr einer ruhigen Erzählweise nach, der Aktivist wendet sich zunehmend den Künsten zu. Vor allem der Malerei gilt seine Leidenschaft, später kommt der Film hinzu. Sprunghaft, fast schon episodenartig werden Szenen aneinandergereiht, in denen Gilles meistens das Zentrum ist, um das andere Figuren kreisen, ihm näherkommen, sich entfernen, manchmal auch ganz verschwinden. Da wären zum einen seine beiden Freundinnen Laure (Careole Combes) und Christine (Lola Créton) – mit beiden ist er zeitweilig verbandelt – aber auch andere Schüler, die ebenso wie Gilles ihren Platz in einer Gesellschaft im Umbruch suchen.
Eine wirkliche Handlung oder einen roten Faden wird man in Die wilde Zeit aufgrund des Episodenhaften nicht vorfinden, eher erinnert das fragmentarische Drama an eine Art Tagebuch voller Eindrücke und Ereignisse, ohne einen Überbau. Auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Überzeugungen und den Aktionen findet hier eher beiläufig statt. Eine Aussage über die damalige Zeit trifft Assayas also nicht, ihm ist weniger an einem Fazit gelegen, als an einem Stimmungsbild. Wie es sich angefühlt, damals dabei zu sein, will der Franzose wissen. Das geht so weit, dass sein Film an vielen Stellen statt wild eher melancholisch und nostalgisch wirkt.
Das spricht sicher auch für die Ausstattung, die einen überzeugend vierzig Jahre in die Vergangenheit versetzt und so den Rahmen bildet für die impressionistische Sinnsuche. Ob einem das gefällt, hängt sehr davon ab, wie gut man sich in eine derartige Situation hineinversetzen kann und auch, ob man ruhige Erzählweisen schätzt. Wer beides bejahen kann, findet hier ein stimmungsvolles (Zeit-)Porträt mit philosophischen Anklängen. Wem es aber nicht reicht, solche Themen und Fragen zu streifen, sondern auch Antworten braucht, Aussagen, Handlungen, vielleicht sogar Taten, wird sich bei dem dialoglastigen Die wilde Zeit vermutlich eher langweilen.
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