(„Traumstadt“ directed by Johannes Schaaf, 1973)
„Jeder Bürger hat das Recht, seine Individualität unmittelbar und rein zu verwirklichen. Jeder Stimmung darf Ausdruck verliehen, jedem Bedürfnis entsprochen, jeder Veranlagung nachgegeben werden.“
Warum eigentlich nicht? Schon länger verzweifelt Florian Sand (Per Oscarsson) an seinem Leben in der Münchner Großstadt, dem Lärm, den vielen Autos, den Zwängen, denen er als Künstler ausgesetzt ist. Immer wieder muss er in Galerien rennen und aller Welt Hände schütteln, nur um überhaupt Aufträge an Land zu ziehen. Selbstverwirklichung? Die gibt es nur in seinen Träumen. Als ihn ein Fremder aufsucht und in die weit entfernte Traumstadt einlädt, in der jeder das tun darf, was er mag, klingt das zu schön, um wahr zu sein. Zweifel hat Florian deshalb mehr als genug, und seine Frau Anna (Rosemarie Fendel) erst recht. Doch die 100.000 Mark, die der Fremde im Koffer hat, die sind real. Patera, ein alter Schulfreund und Gründer der Stadt, bietet sie Florian, damit der sich seinem Utopia anschließt.
Was er am Ende auch macht. Zuerst mit dem Flugzeug, dann auf Kamelen durch die Wüste reisen die beiden in die Traumstadt. Und zunächst sieht auch alles so aus wie beschrieben: Jeder darf wohnen, wo er will. Tun, was er will. Anziehen, was er will. Haben, was er will. Und er muss nicht einmal dafür bezahlen, denn das Prinzip des Geldes kennt man dort nicht. Doch Florian und Anna müssen feststellen, dass das nicht der Stoff ist, aus dem Träume gefertigt werden. Je freier, je ausschweifender die Bewohner bei der Auslebung ihrer Wünsche vorgehen, umso mehr verwandelt sich das unscheinbare Städtchen zu einem echten Alptraum. Seltsam auch: Patera, der Schulfreund, der große Gönner, keiner hat ihn je gesehen.
Lange Zeit hatte der deutsche Regisseur Johannes Schaaf (Trotta, Momo) gezögert, ob er wirklich „Die andere Seite“ von Alfred Kubin verfilmen sollte. Und wer den einzigen Roman des österreichischen Zeichners kennt, weiß warum. Lässt sich überhaupt eine Geschichte für die große Leinwand adaptieren, die eigentlich keine Geschichte ist, mehr eine Aneinanderreihung der seltsamsten Episoden? Bei der nie klar wird, wo Traum und Wirklichkeit ihre Grenzen haben, ja nicht einmal sicher ist, ob der Erzähler bei klarem Verstand ist? Nicht ohne Grund endet das Buch mit einem Epilog, in dem jener nach seinen Erfahrungen in dem Traumreich eine Heilanstalt aufsuchen muss.
Die Antwort lautet ja, wenn auch mit Einschränkungen. Schaaf hält sich nicht sklavisch an das Ausgangsmaterial, nutzt es eher als eine Inspirationsquelle für eine Parabel um dekadente Gesellschaften, die in ihrer Selbstliebe dem Untergang geweiht sind. Einige der Szenen stammen aus dem Buch, andere fügte Schaaf zusammen mit seiner Ehefrau und gleichzeitiger Hauptdarstellerin Rosemarie Fendel selbst hinzu. Dass sich der gebürtige Stuttgarter inzwischen selbst kaum mehr erinnern kann, welche Bestandteile von ihm, welche von Kubin stammen, spricht Bände. Denn das zeigt auf der einen Seite, wie sehr Traumstadt aus einem Guss ist, gleichzeitig aber auch die Willkürlichkeit des Gezeigten. Viele Szenen hätte man in einer nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Reihenfolge aneinanderknüpfen können, ohne dass es dem Zuschauer aufgefallen wäre.
Wer in den Straßen der Traumstadt nach einem roten Faden sucht, wird deshalb bald in ihr verloren gehen und ebenso an ihr verzweifeln wie Anna. Die Massen erreicht der sonderbare Film schon bei seinem Kinostart 1973 nicht, 40 Jahre später dürften die Reaktionen bei vielen eher noch negativer ausfallen. Ein Fest ist Traumstadt hingegen für jeden, der eine Schwäche für das Seltsame hat. Schon Kubin galt einer der Wegbereiter der deutschen Surrealisten, Schaaf erschuf mit dieser Vorlage eine ganze Reihe großartiger, sehr befremdlicher Szenen. Wenn etwa das örtliche Theater keine Zuschauer mehr hat, nur noch Akteure, die ohne äußeren Zusammenhang Rollen aus den unterschiedlichsten Stücken spielen, alle zur selben Zeit, dann ist der Anblick faszinierend, bizarr und erschreckend zugleich.
Diesem Prinzip folgt Traumstadt fast zwei Stunden lang, mit steigender Intensität: Hinter der unscheinbaren Fassade der nach europäischem Vorbild angelegten Stadt wartet eine verzerrte Mutation, hinter dem Kuriosen der Alptraum. Horror ist eines der Genres, mit dem der deutsche Film auf den bekannten Portalen klassifiziert werden soll. Und auch wenn das im Grunde genauso willkürlich ist wie der Film – Drama, Abenteuer, Fantasy, Science Fiction würden alle im gleichen Maß gut und schlecht passen – die bedrohliche Atmosphäre spricht durchaus dafür.
Nur Atmosphäre, nur (Alp)Traum, nur Surreales? Auch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn eingepackt in die bizarre Szenerie stecken berechtigte, existenzielle Fragen: Kann der Mensch in absoluter Freiheit leben? Ist die überhaupt wünschenswert? Wenn es nach Traumstadt geht, lautet die Antwort nein. All die Träumer, die Desillusionierten, die Unzufriedenen, die ihre Heimat verlassen haben, um endlich sie selbst sein zu dürfen, müssen erkennen, dass sie ohne diese äußere Welt und ihre Zwänge letztendlich nichts sind. „Hier passiert sowieso nie was“, seufzt einer der Bewohner, als Florian und Anne in die Stadt ziehen. Ohne diese Grenzen, ohne Ziele und Nöte, gibt es nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Zu leben lohnt. Immer grotesker und grausamer werden daher die Versuche der Selbstverwirklichung, bis die Leere und Unzufriedenheit in einem gewaltsamen Ausbruch ihren Weg nach draußen bahnt.
Manche Träume, so lernen wir dabei, wären vielleicht doch besser Träume geblieben.
Traumstadt ist seit 28. März auf DVD erhältlich
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