(„La Vie d’Adèle“ directed by Abdellatif Kechiche 2013)
Wenn bei einem Menschen die Zukunftsaussichten gradlinig erscheinen, dann wohl bei Adèle (Adèle Exarchopoulos). Der Schulabschluss der 17-Jährigen liegt zwar noch vor ihr, aber sie weiß genau, dass sie im Anschluss als Lehrerin arbeiten will, schließlich mag sie den Umgang mit Kindern. Ihre Noten sind gut, der familiäre Hintergrund ist solide, sie ist hübsch, beliebt und auch noch von dem begehrten Mitschüler Thomas (Jérémie Laheurte) umschwärmt.
Und doch stimmt etwas nicht in ihrem Leben. Ja, Thomas ist nett, sieht gut aus, bemüht sich sehr um sie. Aber sie wird einfach das Gefühl nicht los, dass da etwas fehlt, wenn sie mit ihm zusammen ist. Was das ist, ahnt sie, als eine Freundin sie küsst und vor allem durch die Begegnung mit Emma (Léa Seydoux). Schon länger spukt die Kunststudentin mit ihren blau gefärbten Haaren in ihrer Fantasie herum, seitdem sie sie das erste Mal sah. Als die beiden sich zufällig in einer Bar für Homosexuelle wieder über den Weg laufen, sind auch die inneren Fronten geklärt. Recht schnell werden die beiden ein Paar, haben jedoch immer wieder mit Hindernissen zu kämpfen – innerhalb wie außerhalb der Beziehung.
Die Zeit, in der homosexuelle Beziehungen in Filmen noch ein Aufreger waren, sind jetzt schon etwas länger vorbei. Doch auch wenn gleichgeschlechtliche Liebe kein Tabu mehr ist, abseits von der Special-Interest-Ecke betrifft sie meistens nur Nebenfiguren und bedient sich gerne bei Klischees. Wenn doch mal Schwule und Lesben in den Mittelpunkt gestellt werden – zum Beispiel Brokeback Mountain oder Freier Fall – dann dreht sich alles um versteckte Gefühle und das Nichteingestehenwollen von Begierden.
Bei Blau ist eine warme Farbe ist das völlig anders. Sicher, am Anfang muss sich Adèle gegen wenig tolerante Mitschülerinnen zur Wehr setzen. Und auch als die Emma mit zu ihren Eltern nimmt, zeigen diese, dass man doch ganz gerne in festgelegten Bahnen durch die Welt fährt. Später ist das jedoch überhaupt kein Thema mehr, in Emmas Künstlerumfeld ist Homosexualität gang und gäbe. Sich an irgendwelche Normen anpassen? Was für eine absurde Vorstellung. Dem französischen Regisseur Abdellatif Kechiche ging es dann auch um sehr viel grundlegendere Probleme einer Liebe, erzählt von Leidenschaft, Eifersüchteleien, Sprachlosigkeit. Dass die Hauptfiguren zwei Frauen sind, ist eher Nebensache. Es hätten auch zwei Männer sein können, ein Mann und eine Frau oder auch zwei Schwämme.
Dass Blau ist eine warme Farbe dennoch für einen kleinen Aufruhr gesorgt hat, lag dann weniger an den beiden Protagonistinnen, sondern den erstaunlich expliziten Liebesszenen. Wo bei Brokeback Mountain nur angedeutet wurde, wird hier vorgelebt. Regelmäßig, oft mehrere Minuten lang, sehen wir, wie Adèle und Emma übereinander herfallen und sich ihrer Lust hingeben. Auf der einen Seite ist das konsequent, denn der Film hat auch abseits der Betten etwas Voyeuristisches an sich. Immer mitten drauf lautet die Devise, Großaufnahmen der Protagonistinnen bis ins Detail bestimmen das Bild, auf eine Ablenkung durch Musik wird während des ganzen Films verzichtet.
Kompromisslos war auch Kechiches Umgang mit seinem Drehteam. Seine beiden Hauptdarstellerinnen, aber auch andere Mitarbeiter beklagten sich über unmögliche Arbeitsbedingungen und zu hohe Forderungen. Dass am Ende über 700 Minuten Filmmaterial herauskamen und auch nach der Kürzung Blau ist eine warme Farbe noch stattliche drei Stunden lang ist, belegt dass der Regisseur nicht unbedingt für seine zurückhaltende Art bekannt sein wird. Und das ist die Kehrseite der Medaille, denn dadurch entsteht die Gefahr, dass der Film vor allem durch das Drumherum im Gedächtnis bleiben wird, den Auseinandersetzungen und öffentlichen Anfeindungen, den überlangen Sexszenen.
Das wäre jedoch sehr schade, nötig hat das französische Drama diese Kontroverse nicht. Der Gewinner der goldenen Palme in Cannes mag lang und fordernd sein, langweilig ist er sicher nicht. Gerade durch seine langsame, unaufgeregte Erzählweise nimmt sich die Verfilmung eines Comics von Julie Maroh viel Zeit, die Figuren und ihre Beziehungen zueinander vorzustellen, und auch ihre Unterschiede. Wenn bei Adèles Familie für die Gäste Spagetti Bolognese gekocht wird, es bei Emmas Eltern hingegen Austern gibt, dann zeigt das schon sehr früh, dass die Hintergründe der beiden doch weit auseinander liegen. Und dieses Ungleichgewicht spiegelt sich in späteren Szenen wieder, wenn zunehmend klar wird, dass sie sich auch in Zukunft – trotz gegenteiligen Beteuerns – nicht wirklich auf Augenhöhe begegnen werden.
Für diese kleinen Momente lohnt sich der Film, und für die beiden Hauptdarstellerinnen sowieso. Bei Léa Seydoux hat man immer den Eindruck, sie sei nur einen Film von ihrem großen Durchbruch entfernt. Dass ihre Emma vor Leben und Intensität geradezu glühen wird, kommt also nicht überraschend. Die große Entdeckung ist, dass Newcomerin Adèle Exarchopoulos ihr nicht nachsteht und sie gemeinsam die lebensechte Geschichte einer großen Liebe erzählen, in der am Ende das mit der Gradlinigkeit dann doch nicht sein sollte.
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