(„Blancanieves“ directed by Pablo Berger, 2012)
Es war einmal ein kleines Mädchen (Sofía Oria), das so gar kein märchenhaftes Leben erfahren durfte. Ihrem Vater Antonio Villalta (Daniel Giménez-Cacho) – ein großer, stattlicher Mann und der beliebteste Torero seiner Zeit – lagen die Herzen sämtlicher Frauen und auch so mancher Männer zu Füßen, wenn er in Sevillas Stierkampfarena das Duell mit den Bestien suchte. Ihm zur Seite stand die bildhübsche Flamencotänzerin Carmen de Triana (Inma Cuesta), die ihrem Gatten aufopferungsvoll ergeben war. Doch als der Matador eines Tages lebensbedrohlich verletzt wurde, setzten bei ihr aus Schock vorzeitig die Wehen ein. Das Mädchen kam zwar wohlauf zur Welt, doch ihre Mutter überlebte die Strapazen nicht.
Antonio, der durch den Anblick seiner Tochter zu sehr an seine Frau erinnert wurde, entschloss sich daher, sie in die Obhut der Großmutter Doña Concha (Ángela Molina) zu geben. Nach einigen glücklichen Jahren starb diese jedoch und das Mädchen kehrte schließlich zu guter Letzt auf das Anwesen der Familie zurück. Aber ein glückliches Wiedersehen war dem Kind auch dann nicht vergönnt, denn ihr Vater – seit dem Unfall querschnittsgelähmt und schwer depressiv – hatte zwischenzeitlich seine ehemalige Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú) geheiratet. Und die Goldjägerin war nur wenig daran interessiert, den gewonnenen Reichtum mit jemandem teilen zu müssen. Als das Kind auch noch zu einer bezaubernden jungen Frau (Macarena García) heranwuchs, war klar: Die Konkurrentin muss weg.
Ja, es wäre ein Leichtes, Blancanieves – Ein Märchen in Schwarz und Weiß als Versuch zu diffamieren, Trends hinterherzulaufen. Filmemacher auf der ganzen Welt haben in den letzten Jahren entdeckt, wie viel Geld sich mit Adaptionen traditioneller Märchen im modernen Gewand verdienen lässt. Allein Schneewittchen durfte 2012 in zwei sehr unterschiedlichen Hollywood-Großproduktionen um die Gunst des Publikums werben: Spieglein, Spieglein – Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen mit Julia Roberts und Snow White and the Huntsman mit Kristen Stewart, Chris Hemsworth und Charlize Theron. Der spanische Film aus dem gleichen Jahr bediente sich ebenfalls der bekannten Geschichte – Blancanieves ist der spanische Titel von „Schneewittchen“ –, wählte als Rahmen jedoch das Stummfilmgewand, welches seit dem ein Jahr zuvor erschienenen The Artist wieder salon- und oscarfähig war.
Und doch wäre der Vorwurf unfair, wie der überfällige Home Release dieser Tage beweist. Beim französischen Kritikerliebling waren die Schwarzweißbilder und die fehlende Sprache nicht nur fest mit dem Inhalt des Films verknüpft, mit ihnen sollte auch kräftig an die Nostalgiefähigkeit der Zuschauer appelliert werden, ein wehmütiger Blick zurück auf die goldene, vermeintlich unschuldige Zeit Hollywoods. Bei Blancanieves – Ein Märchen in Schwarz und Weiß sind die Mittel ähnlich, die Absicht ist aber eine andere. Und die Wirkung ist es auch. Wenn hier auf die Ästhetik einer längst vergangenen Ära zurückgegriffen wird, dann um das Märchenhafte zu steigern. Der Schauplatz mag das Spanien der 20er sein, inhaltlich hat das aber nur wenig Relevanz; der Film hätte genauso gut heute oder vor 200 Jahren spielen können, Blancanieves hat immer etwas Zeitloses an sich. Als wären wir aus der Zeit gefallen, dem Hier und Jetzt.
Gleichzeitig ist das spanische Drama meilenweit von dem entfernt, was wir mittlerweile bei Märchen gewohnt sind. Es ist weder actionbetontes Hochglanzgefecht noch kinderfreundliches „Und wenn sie nicht gestorben sind …“. Endete Maleficent kürzlich bei aller Düsterkeit doch versöhnlich, hat der spanische Regisseur und Drehbuchautor Pablo Berger kein Interesse daran, seine Zuschauer mit einem Lächeln zu entlassen – auch wenn es zwischendurch durchaus witzige Szenen gibt. Blut fließt hier zwar keins, seine Hommage an die europäischen Stummfilme der 20er hat aber deutlich finstere Untertöne. Dass Blancanieves – Ein Märchen in Schwarz und Weiß letztes Jahr auf dem sonst stark horror- und thrillergeprägten Fantasy Filmfest lief, ist kein Wunder. Dort staubte der Film sogar den Publikumspreis „Fresh Blood Award“ ab und steht damit in der Tradition anderer Festivalsieger wie Beasts of the Southern Wild oder District 9. Bei den Goya Awards, den wichtigsten Filmpreisen Spaniens, gab es sogar zehn Trophäen.
Trotz der großen Anerkennung von Publikum und Kritikern, richtig massentauglich ist Blancanieves – Ein Märchen in Schwarz und Weiß nicht. Die Handlung größtenteils aus den Dialogen zu entfernen und in die Optik zu verfrachten, ist für heutige Zuschauer gewöhnungsbedürftig: Den Film nebenher laufen lassen, ist nicht; wer sich berieseln lassen möchte, verpasst zu viel. Dass die nicht vorhandene Sprache durch Overacting, übertriebene Gestik und Mimik, kompensiert wird, auch das ist nicht jedermanns Sache. Sofern man mit dem bewusst Unnatürlichen leben kann, wird man jedoch mit wunderbar ausdrucksstarken Bildern und mitreißenden Flamencorhythmen belohnt, durch die der poetische Neostummfilm seine märchenhafte Atmosphäre erst richtig zur Entfaltung bringt.
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