Wer in Sachen Anime neue Empfehlungen braucht, der muss nicht lange suchen: Auf imdb wird man von endlos vielen Listen erschlagen, die einem die 15, 25 oder gar 50 besten Beispiele japanischer Zeichentrickkunst nahelegen. Dass die von User zu User komplett unterschiedlich ausfallen können, verwundert nicht wirklich. Doch wenn es darum geht, Skeptiker davon zu überzeugen, dass Anime mehr bedeutet als Schulmädchen und Riesenroboter, dann fallen meistens zwei Namen: Studio Ghibli ist der erste, Satoshi Kon der zweite. Und das völlig zu Recht, denn auch wenn es am Ende nicht viele Filme wurden, mit den wenigen, die er drehte, erkämpfte sich der frühere Mangazeichner und Drehbuchautor einen ganz eigenen Platz im Animeolymp. Grund genug, um in Teil sechs unseres fortlaufenden Animationsspecials den Film zu beleuchten, mit dem Kon seinen Ruhm begründete: Perfect Blue.
So richtig groß war der Erfolg ihrer Musik ja nicht. Aber auch wenn es nie für die Charts reichte, auf eine treue Schar eingefleischter Fans konnte die Mädchengruppe Cham immer zählen. Für Mima Kirigoe ist das nicht genug, ihre Selbstverwirklichung sieht sie mehr in der Schauspielerei, weniger auf der Bühne. Bei ihrem Publikum und ihrem Umfeld stößt das auf nur wenig Gegenliebe, die möchten sie weiterhin in bonbonfarbenen Kleidern nette Liedchen singen sehen. Als Mima beginnt, komplett mit ihrem Image zu brechen, bei einer gewalttätigen TV-Serie mitspielt und auch Nacktbilder von sich machen lässt, ist die Empörung groß. Doch es bleibt nicht bei den anfänglichen anonymen Anfeindungen, bald schon geschieht ein brutaler Mord. Und es soll nicht der letzte bleiben.
Verwirrung. Wenn es ein Gefühl gibt, das von Perfect Blue bis zu Paprika so ziemlich jedes Kon-Werk im Zuschauer auslöst, dann wohl dieses. Als wäre die mysteriöse Mordserie nicht genug oder auch der unbekannte Stalker, der mehr über Mimas Leben weiß als sie selbst, liebt es hier Kon, die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung zu verwischen. Das findet bei Perfect Blue gleich in zweifacher Hinsicht statt: Zum einen spiegelt sich das Geschehen in der TV-Serie wieder, in der Mima mitspielt. Oft ist es auf Anhieb gar nicht klar, ob wir gerade am Drehort sind oder in der Realität – ein Szenario, das Kon in seinem Meisterwerk Millennium Actress noch weiter perfektionieren wird.
Hinzu kommt, dass nicht einmal Mima selbst sich dessen immer sicher ist. Je mehr um sie herum passiert, umso stärker verliert sie sich in ihren Tagträumen und ihrer Paranoia, sieht Dinge, die gar nicht da sein können. Oder vielleicht doch? „Wer bist du?“ ist nicht nur das einzige, was Mima in der Serie zunächst sprechen darf, die Frage zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film, wenn die angehende Schauspielerin selbst nicht mehr sagen kann, wer sie eigentlich ist. Wer sie überhaupt sein will.
Wer vergleichbare Verwirrspiele mag, in denen der Zuschauer mit mehreren Realitätsebenen konfrontiert wird, der bekommt hier eine ganze Menge geboten. Unterstützt wird die gepflegte Konfusion durch eine metallisch-verzerrte Musik, wie sie auch in Silent Hill ein Zuhause hätte finden können. Umgekehrt bedeutet das jedoch, dass Zuschauer, die eindeutige Antworten brauchen, hier nicht glücklich werden. Selbst nach dem verstörenden Ende, wenn dann doch alles anders kam, als man vorher vermutet hätte, bleiben Zweifel zurück. War es das jetzt? Ergibt das überhaupt einen Sinn? Hat man sich hier vielleicht etwas zu billig aus der Auflösung geschlichen?
Im Gegensatz zur verworrenen Handlung ist das Charakterdesign dafür sehr klar und realitätsbezogen. Ein paar der Randfiguren sehen etwas seltsam aus, im Großen und Ganzen wurde aber bei der Produktion des Animationsstudios Madhouse viel Wert auf Realismus bezogen. Unter anderem ließ er die Anfangschoreografie bei Chams Auftritt von echten Tänzerinnen entwerfen, damit er möglichst glaubhaft wirkt. Auch vor erschreckend expliziten Gewalttaten und Nacktaufnahmen schreckte Kon nicht zurück. An manchen Stellen sieht man das nicht ganz so hohe Budget des Films, wofür sich der Regisseur Jahre später auch entschuldigte. Überraschen ist das jedoch nicht, wurde Perfect Blue ursprünglich direkt für den Videomarkt produziert, kam dann aber doch ins Kino.
Wirklich störend ist das aber nicht, da die meisten viel zu sehr mit Mitfiebern beschäftigt sein dürften. Doch so spannend der Psychothriller auch ist, gleichzeitig schneidet die lose Verfilmung des gleichnamigen Romans von Yoshikazu Takeuchi auch ernste Themen an. Vor allem die Idealisierung und Entmenschlichung von Stars – Popsänger werden im Japanischen nicht ohne Grund als „Idol“ bezeichnet – wird hier an den Pranger gestellt. Wann wird die Grenze normaler Bewunderung überschritten, an welcher Stelle wird ein Fan zu einem Fanatiker? Wie viel von meinem öffentlichen Image gehört mir, wie viel den anderen? Und wozu bin ich bereit, um diesen Ruhm überhaupt zu erreichen? Eine Antwort auf diese Fragen jedoch, die muss man bei Perfect Blue, wie bei Satoshi Kon üblich, für sich selbst finden.
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