Zweimal hat mich Satoshi Kon zum Weinen gebracht, völlig überraschend und ohne Vorwarnung. Das zweite Mal war im August 2010, als der japanische Regisseur nach kurzer schwerer Krankheit verstarb. Das andere Mal war ziemlich genau sieben Jahre zuvor gewesen. Perfect Blue hatte ich zu dem Zeitpunkt bereits gesehen und freute mich darauf, den zweiten Film Kons im Ankündigungsprogramm des Fantasy Filmfests zu entdecken. Doch Millennium Actress war anders, als ich erwartet hatte, anders als der Vorgänger, anders als alle anderen Beiträge, die auf dem sonst sehr horror- und thrillerdominierten Filmfest liefen. Ein Anime, der mir so sehr ans Herz ging, dass ich bei meinem ersten Japanaufenthalt sofort sämtliche DVD-Läden abklapperte, um ihn ein zweites Mal sehen zu können. Als es darum ging, welchen Film ich zu meiner Geburtstagsausgabe unseres fortlaufenden Animationsspecials als Teil 12 vorstelle, musste ich daher erst nicht lange überlegen.
Dabei ist Millenium Actress thematisch gar nicht so weit von Perfect Blue entfernt. Auch hier folgen wir einer Schauspielerin und ihrer Lebensgeschichte. Anlass hierfür ist dieses Mal die Schließung eines altehrwürdigen Filmstudios in Japan. Um dem Ende einer Ära ein Gesicht zu geben, macht sich der Reporter Genya Tachibana auf die Suche nach einem früheren Aushängeschild des Studios: Chiyoko Fujiwara. Die gehörte während des Zweiten Weltkrieges und auch in den Folgejahren zu den größten Schauspielerinnen des Landes, bis sie vor 30 Jahr plötzlich ihre Karriere beendete und verschwand. Genya, selbst ein glühender Fan der Aktrice, will mit seinem Interview natürlich das Geheimnis ihres Rückzugs lüften. Aber auch, wie Chiyoko überhaupt zur Schauspielerei kam. Und die Antwort darauf führt ihn zurück in ihre Jugendjahre, als sie einem Maler begegnet, der auf der Flucht vor der Polizei ist und den sie anschließend ihr Leben lang suchen wird.
„Ich hasse dich mehr, als ich ertragen kann. Und ich liebe dich mehr, als ich ertragen kann. Eines Tages wirst du verstehen.“
Anders als bei seinem Erstling wendet sich der Regisseur und Koautor also dem Drama und der Romanze zu und erzählt die bewegte und bewegende Geschichte eines Mädchens, das dem Mann seiner Träume hinterherläuft. Komplex ist der Inhalt sicher nicht, aber glaubhaft und schlüssig umgesetzt: Jeder, der schon einmal vergeblich einer Liebe hinterhergesehnt hat, wird sich in Millennium Actress wiederfinden und bei Chiyokos Suche mitfiebern.
Ebenso realistisch sind auch die dazugehörigen Bilder. Perfect Blue hatte bereits gezeigt, dass Satoshi Kon kein Interesse an Kulleraugen-Optik hat. Gesichter und Proportionen sind dem wahren Leben nachempfunden, Millennium Actress hätte zumindest von den Bildern her ohne Probleme auch als Realfilm realisiert werden können. Zudem verwöhnen viele Details und ausgefeilte Animationen das Auge. Sah man beim Vorgänger teilweise noch das geringe Budget der ursprünglich als Direct-to-Video geplanten Veröffentlichung, durfte Kon hier zusammen mit seinem Stammstudio Madhouse aus dem Vollen schöpfen. Die Musik ist hingegen eher unauffällig, meistens halten sich die Synthieklänge stark im Hintergrund.
Und das ist durchaus sinnvoll, diente die musikalische Untermalung in Perfect Blue der Verstärkung der verstörenden Atmosphäre, ist Millenium Actress deutlich ruhiger. Dabei wird der Film nie bleiernst oder gibt sich trotz des großen Fokus auf die Liebesgeschichte gar dem Kitsch hin. Vielmehr ist der Anime oft auch richtig witzig, was vor allem Genya Tachibana und seinem Kameramann Kyoji Ida zu verdanken ist. Wenn Genya sich bei seiner Anbetung der Schauspielerin ein bisschen zu sehr reinsteigert und Kyoji dem mit Unverständnis und sarkastischen Bemerkungen begegnet, sorgt das für den notwendigen Comic Relief.
Und dafür gibt es häufig Gelegenheit, denn beide tauchen auf einmal regelmäßig in Chiyokos Erinnerungen und auch ihren Filmen auf, erleben beides hautnah. Wie bei den meisten seiner anderen Werke (Perfect Blue, Paranoia Agent, Paprika) beherrscht es Satoshi Kon also auch hier, die Grenzen zwischen den verschiedenen Ebenen zu verwischen. Oft wissen wir gar nicht so recht, was wir eigentlich sehen. Erzählt Chiyoko aus einem tatsächlichen vergangenen Erlebnis? Oder sind wir in einem ihrer Filme gelandet? Diese sind zwar die Folge ihrer Lebensumstände und scheinen doch auch gleichzeitig direkt auf ihren Hintergrund und ihr Schicksal Bezug zu nehmen. Chiyokos Suche setzt sich in ihren Werken fort, über alle Genres und ein ganzes Jahrtausend lang.
Das Besondere an Millennium Actress ist nämlich, dass der Anime geradezu beiläufig auch noch ein Best of der japanischen Filmgeschichte ist. Im einen Moment befinden wir uns in der Edo-Zeit, dann im Zweiten Weltkrieg, springen plötzlich einige Jahrhunderte zurück, nur um dann eine Rakete zu besteigen. Und immer ist es der eine Mann, dem wir hinterherjagen. Diese namenlose Fremde, der uns den Schlüssel da ließ, ein Schlüssel zur wichtigsten Sache der Welt. Dass man als Zuschauer hier immer wieder die Orientierung verliert, ist normal. Und sicher könnte man Kon wie so oft auch hier den Vorwurf machen, eine im Grunde einfache Geschichte unnötig verwirrend erzählt zu haben. Doch wer in den rund anderthalb Stunden mit Chiyoko durch die Zeit gereist ist, wird viel zu fasziniert von den vielen Erlebnissen sein, um über einzelne Details nachzugrübeln. Wird zu sehr mit dem Mädchen und später der Frau bei ihrer Suche mitgefiebert haben, zu oft über den übereifrigen Genya gelacht haben. Und eben auch zu oft geweint.
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