(„Le Passé“ directed by Asghar Farhadi, 2013)
Es gibt sicherlich schönere Gründe, in die alte Heimat zurückzukehren. Vier Jahre war der Iraner Ahmad (Ali Mosaffa) nicht mehr in Frankreich gewesen, seitdem seine Ehe mit Marie (Bérénice Bejo) in die Brüche gegangen war. Und nun soll diese auch offiziell geschieden werden, damit der Weg für Samir (Tahar Rahim) frei ist, mit dem Marie inzwischen liiert ist. Für Ahmad ist die Situation vor Ort natürlich alles andere als angenehm, doch immerhin, die Freude ist groß, die Kinder wiederzusehen. Während die jüngere Tochter Léa (Jeanne Jestin) kein Problem damit hat, Samir und dessen Sohn Fouad (Elyes Aguis) zu akzeptieren, tut sich die 16-jährige Tochter Lucie (Pauline Burlet) deutlich schwerer. Immer häufiger bleibt sie weg, weigert sich nach Hause zu kommen. Ahmad, so die Hoffnung von Marie, soll herausbekommen, warum die Jugendliche seit einiger Zeit so auffällig verhält.
Und am Ende haben sich alle lieb? Keine Chance, anders als bei der Brady Family zeigt der iranische Regisseur und Drehbuchautor Asghar Farhadi (Nader und Simir) hier, was bei Patchwork-Familien schief gehen kann – und das ist eine ganze Menge. Zwei Kinder aus zwei verschiedenen Beziehungen hat Marie im Schlepptau, keines stammt von Ahmad oder Samir, dafür hat Letzterer ein eigenes Kind und dazu eine Frau, die im Koma liegt. Hier gibt es so viele Verwicklungen, dass man sich fragt, ob denn wenigstens die Betroffenen noch den Überblick haben. Zumal ausgerechnet die Person, die alle anderen zusammenhalten sollte – Marie – damit heillos überfordert ist.
Und für den Zuschauer ist das auch nicht immer alles leicht zu schlucken; komplizierte Familienverhältnisse in allen Ehren, würde man nur die Zusammenfassung der Wendungen lesen, könnte man Le Passé leicht auch für eine Soap Opera halten. Das gilt umso mehr, weil das französische Drama ein recht eigenwilliges Tempo hat. Den Beginn langsam zu nennen, wäre noch untertrieben. Fast in Zeitlupe bewegen wir uns vorwärts, Farhadi lässt sich Zeit, viel Zeit, um Figuren und ihre Situation einzuführen. Und das geschieht mehr über die Stimmung, weniger über Handlung. Schon bei der Ankunft in Paris regnet es, später dominieren Nachtaufnahmen oder Situationen in den düsteren Zimmern des unfertigen neuen Hauses. Auf die Weise korrespondiert das Äußere sehr schön mit dem Innenleben der Figuren, in dem ebenfalls notdürftig die Bruchstücke übertüncht werden, in der Hoffnung, dass niemand die eigenen seelischen Wunden zu Gesicht bekommt.
Umso überraschender, dass sich Farhadi beim Ende derart hat hinreißen lassen. Wenn sich auf der Zielgerade die Ereignisse überschlagen, die Auflösung des großen Geheimnisses noch ein paar weitere Haken schlägt, stellt sich schon die Frage, ob Le Passé hier nicht übers Ziel hinausschießt. So richtig nachzuvollziehen ist die Geschichte da zumindest nicht mehr. Und das bei einem Film, der vorher gerade durch seine Glaubwürdigkeit und die authentische Darstellung einer auseinanderbrechenden Familie begeisterte.
Dieses Kunststück gelang dem Iraner durch eine durch die Bank brillante Besetzung, bei der sowohl die Kinderdarsteller als auch deren erfahrenen Kollegen über sich hinauswachsen. Dass Tahar Rahim ein richtig feiner Charakterschauspieler ist, durfte er ja schon in Ein Prophet unter Beweis stellen. Die große Überraschung ist daher Bérénice Bejo, die hierzulande durch ihre eher komödiantischen Rollen in The Artist und Mademoiselle Populaire bekannt wurde. In Le Passé brilliert sie nun als Frau, die nicht einmal mehr einen Schritt vom Zusammenbruch entfernt ist, die sich ans Glück krallt und der dabei jedoch alles entgleitet.
Dem steht Ali Mosaffa in der Leistung zwar nicht nach, er verleiht dem zwischen allen Fronten stehenden Ahmad die nötige Würde und Ruhe. So richtig interessant ist seine Figur jedoch nicht, im Vergleich zum Trio infernale Marie, Samir und Lucie, die alle an ihren inneren Konflikten zerbrechen, ist der unfreiwillige Vermittler zu sehr Gutmensch. Spannend ist es trotzdem, wenn er auf die anderen trifft. Bis wir erfahren, welche Geheimnisse unter der Oberfläche brodeln, nähert sich das Drama schon fast dem Thrillergenre an. Doch am meisten beeindruckt Le Passé, wenn die Vergangenheit und die unterdrückten Gefühle ihren Weg nach draußen finden, der Versuch der Unterdrückung scheitert. Dann nimmt der Film eine atemberaubende, geradezu physisch schmerzhafte Intensität an, die einen ähnlich zerstört zurücklässt wie seine vom Leben überrannten Figuren.
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