Das fehlende Glied
Teil 23: Das fehlende Glied (1980)

Das fehlende Glied

(„Le Chainon manquant“ directed by Picha, 1980)

Das fehlende GliedWer noch immer ganz niedergeschlagen ist von unserem Beitrag der letzten Woche, der darf aufatmen: In Teil 23 unseres fortlaufenden Animationsspecials wird es wieder deutlich heiterer. Und auch weit weniger realistisch.

Mutterliebe ist bedingungslos? Nicht im Fall von O. Den hätte die werte Mama liebend gerne dem nächsten Dino zum Fraß vorgeworfen. Nachdem auch der Rest der Sippe, ja sogar sein wenige Minuten älterer Zwillingsbruder so gar nichts von dem Säugling wissen will, ist der kleine Steinzeitmensch plötzlich ganz auf sich allein gestellt. Na ja, fast allein. Igua, ein Brontosaurusbaby, wurde ebenfalls von der Mutter verstoßen. Zusammen erkunden sie die große, weite Welt, erleben zahlreiche Abenteuer und werden dabei die Menschheit nachhaltig beeinflussen.

Während Ralph Bakshi (Fritz the Cat, Coonskin) und Bruno Bozzetto (Herr Rossi, Allegro non troppo) namentlich, mindestens aber durch ihre Figuren bis heute Kultstatus haben, ist ein dritter großer Satiriker inzwischen größtenteils in Vergessenheit geraten. Dabei hatte auch der Belgier Picha Erfolge vorzuweisen. Sein Debüt Schande des Dschungels – eine Parodie auf Tarzan – machte ihn schlagartig bekannt, Das fehlende Glied wurde sogar in Cannes gezeigt und lockte hierzulande über eine Million Menschen ins Kino, sofern man dem deutschen Cover der DVD Glauben schenkt. Und wer die beiden obigen Künstler mag, der darf auch tatsächlich mal mit dem Regisseur in die Steinzeit reisen, denn Picha kombiniert den derben Humor von Bakshi mit der Absurdität Bozzettos.Das fehlende Glied Szene 1

Was die Qualität des Films angeht, kann Das fehlende Glied dann aber doch nicht ganz mit den großen Vorbildern mithalten. Dafür sind seine komödiantischen Einfälle über weite Strecken zu einseitig, beschränken sich auf recht billige Sex- und Gewaltszenen, wenn auch deutlich überzeichnet. Was hier in wenigen Minuten an Blut vergossen wird, zeigen andere Animationsregisseure in ihrem gesamten Leben nicht. Zu einem Skandal reichte das damals nicht, da war ihm Bakshi doch einige Jahre zuvorgekommen. Und heute ist die Verknüpfung von Zeichentrick und „erwachsenen“ Inhalten sogar so geläufig, dass Os Erlebnisse fast schon altmodisch wirken.

Deutlich unterhaltsamer wird es daher aus heutiger Sicht, wenn Picha auch andere Mittel zur Unterhaltung sucht. Immer wieder amüsant sind beispielsweise seine Anspielungen auf andere Filme oder die Popkultur. Und auch wenn der Belgier die Gesellschaft karikiert, wir zum Beispiel einem Ameisenstaat begegnen, der bis ins Detail den der Menschen imitiert, bewegen sich die Mundwinkel unweigerlich nach oben. Der beste Grund aber, sich Das fehlende Glied anzuschauen ist die streckenweise herrlich bizarre Flora und Fauna, die sich der Cartoonist für seine alternative Menschheitsgeschichte ausgedacht hat. Wenn hier einbeinige Dinosaurier durch die Gegend hopsen, laszive Katzenwesen die Gegend unsicher machen oder auch moosartige, fleischfressende Pflanzen den stärksten Dino plattmachen, dann erinnert Pichas zweiter Film schon sehr an Der phantastische Planet – nur weniger ernst.Das fehlende Glied Szene 2

Reicht das aber, um sich Steinzeitsatire noch anzuschauen? Jein. Man sollte schon eine Vorliebe für etwas derberen Humor mitbringen und auch an die Optik keine allzu großen Ansprüche stellen, denn die ist hier – passend zum Inhalt – recht primitiv gehalten. Und doch, einen gewissen anarchischen Charme hat Das fehlende Glied auch 25 Jahre später noch. Wer sich für die Geschichte des Animationsfilms interessiert, kann auf seiner Zeitreise also auch bei dieser kuriosen Station einen Zwischenstopp einlegen. Wirklich viele vergleichbare Zeichentrickfilme gibt es ohnehin nicht, da auch Pichas Gesamtwerk eher überschaubar blieb. Nachdem sein dritter Film Der große Knall 1987 böse floppte, dauerte es 20 Jahre, bis er mit Snow White: The Sequel doch noch mal ins Filmgeschäft zurück kehrte und eine – wie sollte es auch anders sein? – schlüpfrige Parodie der klassischen Märchengeschichte ablieferte.



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In Das fehlende Glied zeigte Picha eine alternative Evolutionsgeschichte mit viel Sex, Gewalt und derbem Humor. Die Abwechslung hätte größer sein dürfen und primitiv sind die Zeichnungen auch noch. Doch die bizarren Wesen und die satirischen Elemente sorgen immer wieder für amüsante Momente.
6
von 10