(„Higurashi no Naku Koro ni“ directed by Chiaki Kon, 2006)
Grausige Verpackung, familienfreundlicher Inhalt: The Nightmare Before Christmas zeigte letzte Woche, wie sehr Optik und Geschichte manchmal auseinanderklaffen können. Und das gilt auch für Teil 26 unseres fortlaufenden Animationsspecials – nur umgekehrt. Doch auch in anderer Hinsicht ist die japanische Horrorserie Higurashi – When They Cry bemerkenswert, die wir euch heute passend zu Halloween vorstellen.
Als Keiichi Maebara 1983 in das kleine verschlafene Städtchen Hinamizawa zieht, stehen die Zeichen auf Langeweile. 2000 Einwohner, gerade mal eine Schule – wie aufregend kann das Leben auf dem Land da schon sein? Sehr, wie er bald feststellen muss. Denn da gibt es eine Sache, die ihm seine neuen Freunde nicht erzählt haben: Jedes Jahr zum Watanagashi Festival stirbt ein Einwohner unter mysteriösen Umständen, ein weiterer verschwindet. Der Fluch einer alten Gottheit namens Oyashiro soll daran schuld sein. Eine beunruhigende Nachricht, ja, zumal das diesjährige Festival vor der Tür steht. Wird der Fluch aus dieses Mal sein Opfer fordern?
Wenn in Anime der Protagonist aufs Land zieht, dann bedeutet das meistens, dass wir es mit einer ruhigen Geschichte zu tun haben, bei der das Erwachsenwerden thematisiert wird (Mein Nachbar Totoro), der Unterschied von Stadt zu Land (Barakamon), vielleicht auch beides (Tränen der Erinnerung). Bei Higurashi ist davon nur wenig zu spüren: Keiichi ist ein aufgeschlossener Junge, findet sofort Anschluss bei seinen Mitschülern, ist beliebt, hat mit ihnen eine Menge Spaß. Auch mit dem Leben auf dem Land scheint es keine Probleme zu geben. Vor allem am Anfang der Serie sieht alles nach reiner 08/15-Comedy aus, was auch an dem Charakterdesign liegt: quietschbunte Haarfarben, große Kulleraugen, dazu ein überdimensionaler Kopf.
Doch gerade weil hier alles auf supersüß getrimmt wird, ist der Schock umso größer, als gleich mehrere der Figuren nach nur wenigen Folgen ihr vorzeitiges und sehr blutiges Ende finden. Und das ist erst der Anfang, immer wieder wird es im Verlauf der 26 Folgen sehr brutal: Da wird gefoltert, zerhackt, zu Tode geprügelt, fast jeder verfällt hier irgendwann dem Wahnsinn und wird zum psychopathischen Massenmörder. Und selbst wenn hier mal keiner dran glauben muss, bleibt aufgrund der unheimlichen Musik der Spannungsfaktor hoch.
Wirklich sonderbar wird es aber erst, als die tot geglaubten Charaktere plötzlich wieder auftauchen, man zusammensitzt, lacht, spielt, so als wäre nie etwas gewesen. Und dieses Phänomen wiederholt sich mehrfach: In jedem der in mehrere Folgen aufgeteilten Handlungsbögen sind das Setting und die Figuren identisch, die Geschichte verläuft jedoch anders. Manche der Bögen scheinen parallel stattzufinden, andere hintereinander. Das ist zunächst äußerst verwirrend, erst nach und nach setzen sich die Puzzleteile zusammen. Mit jedem Mal erfahren wir mehr über Hinamizawa und seine Bewohner, plötzlich ergeben Szenen aus vorherigen Episoden Sinn. Wer die doppelte Erzählrichtung in Memento seinerseits verwirrend fand, findet in dem asynchronen Higurashi eine neue Herausforderung.
Hintergrund der ungewöhnlichen Struktur ist die Entstehungsgeschichte: Ursprünglich als Theaterstück geplant, schrieb der japanische Autor Ryukishi07 die Geschichte um und veröffentlichte sie als Computerspielreihe. Jeder Handlungsbogen der Serie basiert auf einem eigenen Spiel, die einzelnen Teile standen für sich, ergaben zusammen aber ein größeres Bild. Die Spiele waren so erfolgreich, dass sie gleich in mehreren Medien fortgesetzt wurden: als Manga, als Realfilm, als Romane, als Hörspiel und eben auch als Anime.
Verantwortlich für Letzteres waren die Regisseurin Chiaki Kon (Arcana Famiglia) und das Animationsstudio Studio Deen (Angel’s Egg, Patlabor, Soul Hunter) – mit einem zwiespältigen Ergebnis. Großer Schwachpunkt ist die Optik, die ganz unabhängig von den gewöhnungsbedürftigen Charakterdesigns nicht übers Mittelmaß hinauskommt: Die Bilder sind zwar detailliert, dafür aber völlig leblos. Und selbst wenn sich etwas bewegt, etwa die Protagonisten, dann nur rudimentär und abgehackt. Was Higurashi an optischer Finesse fehlt, macht die Serie aber mit seiner packenden Atmosphäre wieder wett. Dass der anfängliche Psychohorror später zugunsten größerer Goreanteile zurückstecken muss ist schade, spannend bleibt es aber auch nach dem fantastischen Auftakt – schließlich will man wissen, was hier denn nun gespielt wird.
Die Auflösung darauf blieb außerhalb Japans den meisten Animefans leider verschlossen: Während die erste Staffel zumindest in den USA als When They Cry und in Frankreich unter dem Titel Higurashi – Hinamizawa, le village maudit veröffentlicht wurde – und böse floppte – erschien die zweite Staffel Higurashi no Naku Koro ni Kai sogar nur in Australien. Und das ist doppelt ärgerlich, denn in den 24 Episoden wird vieles erklärt, was zuvor noch ein Rätsel blieb. Dennoch lohnt sich auch die erste Hälfte von Higurashi. Wer nicht vor Importen zurückschreckt und ein Faible für Horror hat, sollte deshalb der verfluchten Kleinstadt einen Besuch abstatten – oder zu den Spielen greifen, die immerhin auf Englisch erhältlich sind.
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