(„Tokyo Magnitude 8.0“ directed by Masaki Tachibana, 2009)
Man kann mit Serien viel komplexere Geschichten erzählen als mit einem Film? Das mag für Hollywood eine relativ neue Erkenntnis sein, in Japan kam man da schon deutlich früher drauf. Tatsächlich würde so mancher Fan argumentieren, dass bei Anime gerade die Serien das eigentliche Herzstück sind und Filme nicht mehr als ein netter Bonus. Aus diesem Grund werden wir im Rahmen unseres fortlaufenden Animationsspecials auch regelmäßig einen Blick darauf werfen, was in Fernost eigentlich so über den Bildschirm flimmert. Und den Anfang macht in Teil 22 des Specials ein Beispiel, das so rein gar nichts mit Dragonball, Pokémon oder Sailor Moon gemeinsam hat.
„Ich habe es so satt. Alles sollte einfach zerstört werden.“
So richtig viel Spaß hat Mirai ja nicht am Leben. An der Schule läuft es nicht besonders, zu Hause wird nur noch gestritten, in den Sommerferien gibt es mal wieder keinen Urlaub und dann muss sie auch noch mit ihrem doofen kleinen Bruder Yûki zu einer Roboterausstellung. Kurz drauf wird sie diese Worte aber bitter bereuen: Ein massives Erdbeben zwingt Tokyo in die Knie und die beiden Kinder müssen versuchen, irgendwie wieder nach Hause zu kommen. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht mehr, Netze und Strom auch nicht, sogar das Essen wird knapp. Ganz allein sind sie zum Glück jedoch nicht, denn eine Kurierfahrerin namens Mari schließt sich den beiden an. Und auch sie weiß nicht, ob ihre Familie das Desaster überlebt hat …
Regisseure, Drehbuchautoren, vielleicht auch das Animationsstudio – wenn sich Fans in Forum über neue Animeserien unterhalten, dann wird schon anhand der beteiligten Personen spekuliert, wie das Ergebnis ausfällt. Doch es gibt auch einen weiteren, weniger naheliegenden Faktor, der durchaus Einfluss hat: wann und wo die Serie ausgestrahlt wird. Eine Programmschiene, die inzwischen längst selbst zu einer Marke wurde, nennt sich noitaminA – rückwärts für „Animation“ – und müht sich seit über neun Jahren darum, jeden Donnerstag weit nach Mitternacht neue Zielgruppen für Anime zu erschließen. Anfangs bedeutete das vor allem Serien für Frauen (Honey and Clover, Paradise Kiss). Aber auch Horror (Ayakashi, Shiki) und Thriller (Psycho-Pass, Terror in Resonance) standen oftmals auf dem Programm, dazu noch ungewöhnliche Beiträge wie Tatami Galaxy, House of Five Leaves oder Samurai Flamenco. Und eben auch Tokyo Magnitude 8.0.
Dabei ist es hier gerade der Realismus, der auffällt – optisch wie inhaltlich. Basierend auf der Vorhersage, dass Tokyo in nicht allzu ferner Zukunft von einem richtig großen Erdbeben getroffen wird, stellt der Anime die Frage, was das genau bedeuten würde. Dafür wurden fleißig Studien gelesen, Leute interviewt, mit Behörden gesprochen. Heraus kam eine Mischung aus Katastrophenfilmen wie The Impossible und dem menschlichen Drama aus Die letzten Glühwürmchen, ohne jedoch den Kitschfaktor des Ersteren oder die emotionale Wucht des Letzteren zu erreichen. Stattdessen ist Tokyo Magnitude 8.0 größtenteils bemerkenswert unaufgeregt. Das eine oder andere Nachbeben sorgt zwischendurch für Adrenalinsprünge, ansonsten konzentriert sich Regisseur Masaki Tachibana aber auf die Menschen.
Zum einen betrifft das natürlich unsere beiden kleinen Protagonisten. In den vielen ruhigen Momenten lernen wir sie durch die Interaktion untereinander, aber auch durch viele Rückblenden besser kennen. Vor dem Hintergrund einer großen Katastrophe setzt sich so das Bild einer Familie zusammen, deren Mitglieder sich vor lauter Alltag zunehmend entfremden. Aber auch das Drumherum bietet Einblick in das menschliche Verhalten, sei es mit den teils wahnsinnig traurigen Schicksalen der Leute, denen sie begegnen. Ebenso offen gezeigt wird, dass so mancher sich in der Not dann doch selbst der Nächste ist. Die größte Katastrophe, das ist der Mensch.
Optisch ist Tokyo Magnitude 8.0 weniger bemerkenswert. Die Animationen sind guter Durchschnitt, die Charakterdesigns eher langweilig. Gelungen sind dagegen die detaillierten, naturalistischen Hintergründe, die Zusammenarbeit der beiden Animationsstudios Kinema Citrus und BONES (Fullmetal Alchemist, Wolf’s Rain, Space Dandy) zeichnet ein akkurates Bild der japanischen Millionenmetropole. Wer selbst schon einmal in Tokyo war, wird hier vieles wiedererkennen und erschrocken darüber sein, wie die Stadt nach dem Unglück aussehen würde.
Nachdem es im Filmbereich schon genügend Beispiele dafür gab, dass Anime entgegen ihren Rufes sehr wohl realistische und sehr sehenswerte Geschichten erzählen können (Stimme des Herzens, Flüstern des Meeres, Mein Heimatland Japan), beweist Tokyo Magnitude 8.0, dass das auch im Fernsehen möglich ist. Ein paar Schwachpunkte gibt es, etwa den Hang zum Melodram und das etwas unpassende Ende. Trotzdem sollten nicht nur Animationsfreunde einen Blick auf das nächtliche Survivalwerk werfen. Und anschließend hoffen, dass sich bald ein deutscher Verleih für Barakamon findet, der neuen und hoch gelobten Zusammenarbeit von Tachibana und Kinema Citrus.
(Anzeige)