(„Alois Nebel“ directed by Tomás Lunák, 2011)
Wie schon bei Toys in the Attic vor einigen Wochen steht auch Teil 31 unseres fortlaufenden Animationsspecials im Zeichen Tschechiens. Doch dieses Mal haben nicht die großen Stop-Motion-Künstler des traditionsreichen Landes das Sagen, sondern ein Debütant, der auf eine fast in Vergessenheit geratene Animationstechnik zurückgreift und damit Erstaunliches schafft.
Die Tschechoslowakei Ende 1989: Während in Prag und den anderen großen Städten des Landes die Bürger voller Hoffnung Richtung Westen schauen, ticken die Uhren in Bílý Potok ein wenig anders. In dem kleinen, abgelegenen Ort nahe der polnischen Grenze leben die Menschen fernab vom Trubel in ihrer eigenen kleinen Welt. Einer von ihnen ist Alois Nebel, der am örtlichen Bahnhof arbeitet und Frieden beim Rezitieren alter Fahrpläne findet. Doch immer wieder wird dieser Frieden gestört, als Erinnerungsfetzen an ein traumatisches Erlebnis ihren Weg in sein Bewusstsein finden. Und auch der stumme Fremde, der am Bahnhof aufgegriffen wird, scheint von seiner Vergangenheit verfolgt zu werden.
Wandel ist gut? Nicht immer, so die Erkenntnis aus Alois Nebel. Zwei Ereignisse bilden bei der Verfilmung des gleichnamigen Comics von Jaroslav Rudis und Jaromir 99 den Rahmen, welche eigentlich positiv besetzt sind: das Ende des ersten Weltkriegs und die samtene Revolution, die Ende 1989 den Übergang der Tschechoslowakei zu einer Demokratie einleitete. Doch in beiden Fällen gehen die Veränderungen nicht für jeden mit erstrebenswerten Folgen einher. Zum einen spricht der tschechische Animationsfilm das heikle Thema der Sudetendeutschen an, welche 1945 vertrieben wurden. Zum anderen zeigt er aber auch, dass der Gewinn von Freiheit 1989 mit dem Verlust von Sicherheit und schützenden Strukturen einherging. Für Nebel, der aufgrund seiner Traumata in einer psychiatrischen Anstalt landet, ist nach seiner Entlassung kein Platz mehr in diesem Land: Seine Stellung hat er verloren, keiner fühlt sich für ihn noch verantwortlich.
Geistige Krankheiten, unverarbeitete traurige Erlebnisse, Arbeitslosigkeit, Armut, Prostitution und Tod – Alois Nebel konfrontiert den Zuschauer mit einer ganzen Reihe düsterer Themen, die so gar nicht in das gerade durch die USA verbreitete Bild passen, Animationsfilme seien in erster Linie Unterhaltung für die Kinder. Nur selten gibt es in dem Film Anlass zur Freude, etwa als Nebel die Klofrau Květa kennenlernt und sich eine leise Romanze anbahnt. Doch selbst diese Annäherung zweier einsamer Seelen scheitert immer wieder an dem Unvermögen des ehemaligen Fahrdienstleiters, sich auf andere Menschen einzulassen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Verstärkt wird diese allgemeine Trostlosigkeit durch das komplette Fehlen von Farben: schwarz, weiß, gelegentliche Grautöne, mehr gibt es nicht in der rauen Welt des Altvater-Gebirges.
Und doch ist es gerade die Optik, welche Alois Nebel zu einem ganz besonderen Animationsfilm macht. Das wunderbare Spiel mit Licht und Schatten entwickelt eine geradezu magische Zugkraft, zieht einen immer tiefer hinein in das ereignislose Leben des Einzelgängers. Bemerkenswert ist jedoch nicht nur die mangelnde Farbigkeit, sondern auch die Art der Animation: Regisseur Tomás Lunák griff auf das heute kaum mehr übliche Rotoskopieverfahren zurück, welches unter anderem in Waking Life, A Scanner Darkly oder Aku no hana – Die Blumen des Bösen zum Einsatz kam. Hierbei werden die Szenen erst mit realen Schauspielern gedreht, auf eine Glasscheibe projiziert und anschließend abgezeichnet. Das Ergebnis sind deutlich natürlichere Animationen als bei herkömmlichen Zeichentrickfilmen, zusammen mit den hart umrandeten Konturen der Figuren ergeben sie hier eine ganz eigene, sehr atmosphärische Mischung aus Realismus und Stilisierung.
Inhaltlich ist Alois Nebel jedoch deutlich weniger aufregend. Sehr ruhig, teilweise fragmentarisch erzählt Lunák von vergangenen wie heutigen Unglücken und den Versuchen, diese zu meistern. Das ist vor allem dann stark, wenn es um den Alltag Nebels und seiner Umgebung geht, das sich in kleinen, unspektakulären, doch aber oft auch bewegenden Szenen darstellt. Unbefriedigend bleibt hingegen die Nebenhandlung um den stummen Fremden, welche nie wirklich ausgebaut wird und auch sehr abrupt endet. Als Neo-Noir-Thriller ist der Film daher weniger geeignet, da waren animierte Genreverwandte wie Perfect Blue dann doch spannender. Als Drama hinterlässt die melancholische Geschichte um einen Außenseiter und die Aufarbeitung eines politisch immer noch Themas dafür einen umso größeren Eindruck. Hin und wieder verliert sich Alois Nebel sicher ein bisschen zu sehr in Einzelszenen, ohne etwas zu zeigen, ohne einen Kontext zu schaffen – das überlässt Lunák dem Zuschauer – doch wer Interesse an diesem speziellen historischen Inhalt hat oder auch an optisch ungewöhnlichen Erfahrungen, für den zeigt der tschechische Animationsfilm, welche poetische Kraft dieses oft belächelte Medium hat.
Alois Nebel ist seit 28. November auf DVD und Blu-ray erhältlich
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