(„Gusukô Budori no denki“ directed by Gisaburō Sugii, 2012)
Wie schon letztes Mal bei Creature Comforts stehen auch diese Woche sprechende Tiere im Mittelpunkt des Geschehens. Doch anders als bei der absurd-satirischen Mockumentary wird es in Teil 50 unseres fortlaufenden Animationsspecials ausgesprochen melancholisch, manchmal auch sehr surreal.
Einfach ist das Leben für die Bevölkerung in den mit Wald bewachsenen Hügeln im Nordosten Japans nie gewesen. Doch dieses Jahr ist es besonders schlimm, ein schwerer Kälteeinbruch stürzt die Menschen in große Not. Auch die Holzfällerfamilie ist davon betroffen, der sichere Hungertod kündigt sich an. Und so machen sich die Eltern auf die Suche nach Nahrung, eine Suche, von der sie nie zurückkommen. Als auch noch seine kleine Schwester von einem seltsamen Wesen entführt wird, bleibt Budori allein zurück. Nun liegt es an ihm, sich zu versorgen, zum ersten Mal in seinem Leben verlässt er die vertrauten Wälder und begibt sich auf eine ungewisse Reise.
Animeadaptionen von Kenji-Miyazawa-Geschichten und Deutschland, das war bislang keine besonders ergiebige Kombination. Der Klassiker Night on the Galactic Railroad schaffte es nie hierher, die TV-Biografie Spring and Chaos ebenso wenig, auch Goshu, der Cellist ist eine extreme Rarität. Doch das Warten hat ein Ende, denn vor Kurzem fand etwas überraschend Das Leben des Budori Gusko seinen Weg in die hiesigen Läden. Überraschend deshalb, weil schon einmal eine Animefassung der 1932 erschienenen Novelle gedreht wurde, die jedoch Japan nie verließ. 1994 war das, Regie führte damals immerhin Ryūtarō Nakamura, der dank seiner Serien Serial Experiments Lain und Kino’s Journey jedem Fan ungewöhnlicher Anime ein Begriff sein sollte. Aber auch die 2012er Fassung darf mit einem bekannten Namen protzen: Gisaburō Sugii war nicht nur für Klassiker wie Tom, Crosby und die Mäusebrigade und Street Fighter II verantwortlich, sondern eben auch für Night on the Galactic Railroad. Allein deshalb durfte man neugierig sein, wie denn seine zweite Miyazawa-Interpretation ausfallen würde.
Ruhig, ausgesprochen ruhig. Die Ausgangslage – die Familie eines Jungen verschwindet, er begibt sich auf eine Reise –, da würde man einen Abenteuerfilm wie bei Studio Ghibli erwarten, vielleicht auch etwas im Stil von Children Who Chase Lost Voices oder Brave Story. Doch davon ist hier nichts zu sehen, es gibt keine aufregenden Begegnungen, keine Actionszenen, keine albernen Comedyeinlagen. Nicht einmal wirklich dramatisch wird es. Melancholisch ja, aber es ist eine leise Melancholie, die sich in oft wortlosen Träumereien und dunklen Bildern verliert. Wer ein Fan der aktuellen Animelandschaft ist, wo Gefühle immer mit dem Holzhammer in den Zuschauer geprügelt werden (siehe Black Rock Shooter oder Selector Infected WIXOSS), dem wird das womöglich nicht reichen, hier die Emotionalität vermissen. Tatsächlich bleibt Budori für einen Protagonisten erstaunlich auf Distanz. Wir erfahren nur wenig über ihn, er scheint einfach da zu sein. Und dann auch wieder nicht.
Denn auch das unterscheidet Das Leben des Budori Gusko von der Konkurrenz: Die Grenze zwischen Realität und Traum wird hier nur selten klar gezogen. Schon dass Sugii wie seinerzeit bei Night on the Galactic Railroad aus den Menschen der literarischen Vorlage Katzen machte, trägt dazu bei, dass hier alles etwas entrückt ist. Manchmal kommen dann noch deutlich eigenartigere Kreaturen hinzu, manchmal sind wir selbst in einer anderen Welt, surreal, düster und alptraumhaft. Aber all das scheint nur nebenher zu passieren, Miyazawas Geschichte gibt Rätsel auf, die sie nicht wieder auflöst. Am besten fährt hier deshalb jemand, der allgemein eine Vorliebe unwirkliche Filme à la Gwen et le livre de sable hat, die viel Raum für Interpretationen lassen. Der Anime, er lebt mehr von seiner Stimmung als von einer tatsächlichen Handlung oder Figuren.
Traumhaft ist ebenfalls die visuelle Umsetzung, meistens zumindest. Das Traditionsstudio Tezuka Productions (Astro Boy, Kids on the Slope) schuf gemäldeartige Landschaften, die – gleich ob in der Realität oder Budoris Visionen – wunderschön sind. Auch die spätere Stadt im viktorianischen Stil bietet viele Details, die einen die eher spartanische Geschichte schnell vergessen lassen. Weniger geglückt ist wie so oft die Integration von computerberechneten Elementen, die sich nicht immer ganz harmonisch ins Gesamtbild einfügen. Doch trotz dieser kleineren Mängel, das Warten hat sich gelohnt: In dem oft zu gleichförmigen Angebot des hiesigen Animemarkts nimmt dieser spröde Sonderling eine ganz eigene Stellung ein. Und allein deshalb sollte man dem Film eine Chance geben.
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