(„Mommy“ directed by Xavier Dolan, 2014)
Unruhig, provokativ mit einem Hang zur Gewalt – Steve (Antoine Oliver Pilon) ist für jeden, der ihm begegnet eine Herausforderung. Als er nach einem Zwischenfall mal wieder aus einem Heim fliegt, nimmt ihn seine verwitwete Mutter Diane (Anne Dorval) wieder bei sich auf. Aber es dauert nicht lange, bis auch sie an ihre Grenzen stößt. Erst als sie die Bekanntschaft ihrer stotternden Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) macht, scheint Stabilität in das Leben der beiden zu kommen, denn die drei gestrauchelten Menschen finden in ihrer Beziehung zueinander etwas, das sie von Behörden und Gesellschaft nicht bekommen haben.
Kaum ein Nachwuchsregisseur wurde in den letzten Jahren ähnlich heißt diskutiert und gefeiert wie Xavier Dolan: Nach seinem epochalen Transexuellendrama Laurence Anyways und dem finster brodelnden Thriller Sag nicht, wer du bist!, kehrt der 26-jähriges Kanadier hier zu seinen Ursprüngen zurück, beleuchtet wie in seinem furiosen Debüt I Killed My Mother ein ungewöhnliches Mutter-Sohn-Verhältnis. Wie damals schon übernahm Anne Dorval die weibliche Hauptrolle, auch mit Suzanne Clément hatte er zuvor erfolgreich zusammengearbeitet. Abgerundet wird das Film-Ensemble durch Nachwuchsschauspieler Antoine-Olivier Pilon, mit dem Dolan im schockierenden Musikvideo College Boy von Indochine mitgespielt hat und der hier eine so umwerfende Performance als hyperaktiver Jugendlicher abliefert, dass einem an mehr als einer Stelle die Kinnlade herunterklappt.
Überhaupt ist Mommy ein Film, den man so schnell nicht wieder vergisst. An der Handlung liegt das sicher nicht, denn die ist eher überschaubar. Über zwei Stunden wird hier größtenteils gesprochen, oft gestritten, manchmal dürfen auch Dinge im Streit durch die Luft fliegen oder zerbrochen werden. Nur geschieht das hier mit einer derartigen emotionalen Wucht und Vehemenz, dass einem manche Szenen durch Mark und Bein gehen, man selbst als distanzierter Zuschauer kräftig durchgeschüttelt wird. Dabei ist es nicht so, als würde Dolan seine Figuren in irgendeiner Form verurteilen: Selbst wenn sie gerade mal wieder die Beherrschung verlieren und durch die Szenerie wüten, begegnet das Regietalent ihnen und ihren Kämpfen mit viel Verständnis, lässt sich ganz nah auf sie ein.
Hinzu kommt, dass Mommy kein durchweg pessimistischer Film ist: Inmitten der Härte, der Probleme und Konflikte entdeckt das innerlich zerrüttete Trio immer wieder kleine Momente des Glücks und der Hoffnung, die Dolan dann auch ausgiebig zelebriert. Wunderschön beispielsweise ist die Szene, in der sich Steve zusammen mit seinem Einkaufswagen immer wieder um die eigene Achse dreht, liebt und lebt, und der Bitterkeit des Alltags zu entkommen scheint – bis zum nächsten gewaltsamen Aufprall mit seiner Mutter. Und auch als die drei durch die Stadt radeln und sich ihres Lebens und der Situation erfreuen, eröffnen sich neue Perspektiven. Und das ist hier durchaus wörtlich zu verstehen.
Schon in Laurence Anyways neigt Dolan dazu, seine Filme durch kleine audiovisuelle Spielereien unterstützen zu wollen. In Mommy wählte er dazu ein quadratisches Bildformat, wohl auch um die Enge der Situation auszudrücken und den Druck, unter dem alle drei Protagonisten leiden. Und doch ist der Kasten eben nicht fix, immer wieder wird hier damit gespielt, das Bild weitet sich aus, um sich später dann wieder zusammenzuziehen. Interessant ist diese Idee sicherlich, auch einigermaßen wirkungsvoll, letzten Endes dann aber nicht mehr als ein Gimmick, das es in der Form nicht gebraucht hätte. Doch auch wenn Dolan dazu neigt, manchmal die Form etwas über den Inhalt zu stellen und die psychologischen Hintergründe kaum ausführt, so ist doch auch Mommy ein weiterer bemerkenswerter Film in seinem noch jungen Schaffen, der die Neugierde hoch hält, wohin es das kanadische Wunderkind als nächstes verschlägt.
(Anzeige)