(„Fushigi no Kuni no Arisu“ directed by Taku Sugiyama, 1983-84)
Kein Erlebnis, keine Situation kann so öde sein, dass die kleine Alice daraus in ihrer Fantasie nicht ein großes Abenteuer machen würde. Vor allem seitdem sie in einem Zauberhut ein kleines weißes Kaninchen fand, gibt es für sie kein Halten mehr: Zusammen mit Benny Bunny, wie sie ihren tierischen Begleiter nennt, reist sie zu jeder sich bietenden Gelegenheit in das eigenwillige Wunderland, wo man die Körpergröße durch Pilze oder Kuchen verändern kann, die sonderbarsten Wesen leben und das mit eiserner Hand von der despotischen Herzkönigin regiert wird.
Wenn die Rede von den einflussreichsten englischen Büchern aller Zeiten die Rede ist, führt kaum ein Weg an „Alice im Wunderland“ vorbei, jener 1865 von Lewis Carroll alias Charles Lutwidge Dodgson veröffentlichen Kindergeschichte. Nicht nur dass der Titel 150 Jahre später noch jedem bekannt ist und viele Figuren oder auch Zitate unabhängig von der literarischen Vorlage zum Allgemeingut wurden, der Roman wurde auch unzählige Male verfilmt: Der ersten Adaption 1902 folgten über 30 weitere, die bekanntesten darunter sicherlich die Disney-Version von 1951 und Tim Burtons Blockbuster aus dem Jahr 2010. Da stand die deutsch-japanische Zeichentrickserie ein wenig im Schatten, doch auch diese fand in den 80ern eine große und treue Fangemeinde.
Wie die meisten Verfilmungen hält sich auch die Version von Regisseur Taku Sugiyama (Space Firebird 2772) nur zum Teil an das Original, schmeißt zum einen Elemente aus „Alice im Wunderland“ und dessen Nachfolger „Alice hinter den Spiegeln“ zusammen, scheute aber auch nicht davor, komplett neue Situationen und Figuren einzuführen. Der prominenteste Neuzugang war sicher Benny Bunny, der als einziger ebenfalls sowohl Realität und Wunderland besuchen kann. Mag sein, dass man der Ansicht war, Alice bräuchte einen Weggefährten, der à la Krümel aus Nils Holgersson die Verbindung zur Heimat darstellt und mit dem sie das Erlebte auch teilen kann. Vielleicht baute man aber auch darauf, dass ein niedlicher Sidekick beim Verkauf des zugehörigen Merchandisings förderlich sein könnte – was dann auch zutraf.
Ebenfalls fällt auf Anhieb eine strukturelle Änderung auf: Erlebte Alice in den Büchern sämtliche Abenteuer in Folge, werden sie hier aufgeteilt, um der episodischen Erzählweise einer Serie entgegenzukommen. Ist das Abenteuer vorbei, geht es jedes Mal zurück nach Hause, wobei Alice im Wunderland es tendenziell offen lässt, ob die Ereignisse im Wunderland nun real oder geträumt waren. Geschadet hat dieser Umbau nicht, schon bei der Ur-Alice gab es keinen roten Faden, die einzelnen Geschichten bauten kaum aufeinander auf. Sie dann vollends voneinander zu trennen, hat daher dann relativ wenige Auswirkungen. Zudem hatte das den Vorteil, dass man die 52 Folgen in einer (fast) beliebigen Reihenfolge anschauen konnte, ohne dass dabei etwas verloren ging.
Liebhaber der Vorlage werden dafür einen Wechsel der Atmosphäre beklagen: War das Original zwar für Kinder geschrieben, fanden sich dort jedoch in Anspielungen und satirischen Seitenhieben auf Zeit und Gesellschaft genügend Material, damit auch Erwachsene ihren Spaß haben. Und auch die surreale Stimmung und die cleveren Wort- bzw. Logikspiele überlebten den Sprung in die Zeichentrickwelt kaum. Stattdessen setzte man konsequent auf ein eher jüngeres Fernsehpublikum, bot diesem Abenteuer an, die zwar fantasievoll und farbenfroh waren, aber letzten Endes relativ harmlos – was vor allem für die neu hinzu gefügten gilt.
Spaßig war die Serie aber zweifelsfrei, bot viele kauzige Figuren und humorvolle Passagen sowie eine Titelheldin, mit der sich die Zuschauer gern identifizieren wollten. Die Elemente eines Entwicklungsromans sind hier zwar ebenfalls verschwunden, Alice scheint bis zum Schluss nicht wirklich etwas hinzuzulernen. Aber gerade Kinder werden vor Vergnügen quieken, wenn das Mädchen auch 50 Folgen später freche Antworten gibt, sich ständig mit ihrer älteren Schwester zofft und trotz elterlicher Anweisungen nie ohne Hut im Haus herumläuft.
Optisch ist die Umsetzung durch das alteingesessene Studio Nippon Animation (Marco, Pinocchio, Biene Maja) ungefähr so, wie man es von einer so langen Fernsehserie der 80er erwarten kann. In anderen Worten: Die Animationen sind spärlich, die Hintergründe auch, Effekte sind Mangelware, dafür gibt es unzählige ausdrucksstarke und witzig gestaltete Figuren. Und auch die Musik ist ein eindeutiges Kind ihrer Zeit, vermischt lustige Geräusche mit Synthiespielereien und ein wenig Schlager. Zeitgemäß ist das nicht unbedingt, mit der grandiosen Disney-Fassung kann es die TV-Produktion ohnehin nicht aufnehmen, da war die trotz des Altersunterschieds technisch deutlich besser und auch charmanter. Dank des zeitlosen Inhalts ist aber auch die spätere Interpretation des Klassikers für Jüngere oder Nostalgiker eine Empfehlung wert. Gerade Letztere werden sich daher darüber freuen, dass die Serie dieser Tage in einer kompakten Komplettbox erscheint, die zwar keinerlei Extras bietet, dafür aber über 20 Stunden gute Unterhaltung für wenig Geld.
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