(„Ich seh, ich seh“ directed by Veronika Franz, Severin Fiala, 2014)
Nach ihrer Schönheitsoperation will die Mutter (Susanne Wuest) von Lukas (Lukas Schwarz) und Elias (Elias Schwarz) erst einmal ihre Ruhe: Lautes Reden ist verboten, die Rollläden müssten ständig geschlossen sein, Besuch ist unerwünscht. Die Zwillinge sind irritiert, nicht nur dass diese Frau anders aussieht als ihre Mutter, sie ist auch deutlich distanzierter. Geradezu feindselig. Was, wenn sie es am Ende gar nicht ist? Wenn es sich dabei um eine völlig fremde Frau handelt, die nur ihren Platz einnehmen will? Und so beschließen die beiden, die Wahrheit herauszufinden, koste es, was es wolle.
Das Äußere kann trügen – das gilt nicht nur für bandagierte Frauen, die sich seltsam verhalten, sondern auch für Ich seh, ich seh. Eine abgelegene Gegend mit Wäldern, einem See und anderen Naturlandschaften, das wirkt zunächst wie das Paradies. Hinter diesem Idyll braut sich jedoch etwas Böses zusammen, statt heimeliger Volksmusikklänge ertönt hier im Hintergrund eine unheimlich-brummende Musik, die keinen Zweifel daran lässt, dass es mit dem Frieden bald vorbei sein wird. Bis es so weit ist, vergeht jedoch eine Weile, die Ko-Regisseure Veronika Franz und Severin Fiala zeigen vorrangig Szenen, welche die innere Anspannung kontinuierlich nach oben treiben, manchmal wird es sogar richtig verstörend.
Eine wirkliche Überraschung ist das nicht, handelt es sich bei Franz doch um die Ehepartnerin von Ulrich Seidl und hat mit ihm unter anderem an der Paradies-Trilogie und Im Keller gearbeitet. So wie ihr Mann wagt sie auch in ihrem eigenen Spielfilm den Blick in die menschlichen Abgründe und Absonderlichkeiten. Ein einfacher Film ist Ich seh, ich seh daher auch nicht, wobei die dokumentarischen Elemente hier recht gering sind, vielmehr ist der Thriller immer am Rande der Fantastik zu Hause, dort wo Realität und Vorstellungskraft viel enger beieinanderliegen, als man es haben mag.
Die tatsächliche Hintergrundgeschichte geizt ebenfalls ein wenig mit Überraschungen, zumindest wer in dem Genre heimisch ist, wird schon nach wenigen Minuten ahnen, worum es hier eigentlich geht, den späteren Twist kaum mehr als solchen wahrnehmen. Aber vermutlich war dieser den beiden Österreichern, die gemeinsam auch das Drehbuch schrieben, ohnehin nicht übermäßig wichtig: Sehr hektisch, geradezu lieblos wird die Geschichte aufgelöst, die Informationen zu den Ereignissen auf das Minimum beschränkt. Das ist insofern schon etwas eigenartig, da sich das Duo vorher sehr viel Zeit lässt, die Handlung manchmal kaum mehr vorangetrieben wird.
Belanglos ist der Inhalt dennoch nicht, denn im Gewand eines Thrillers werden einige existenzielle Fragen zur menschlichen Identität gestellt. Was macht mich eigentlich aus? Mein Gesicht? Mein Verhalten? Wie viel kann ich an mir ändern und dennoch ich bleiben? Dass hier die Protagonisten zwei Kinder sind, gibt den philosophischen Überlegungen einen nachvollziehbaren Rahmen, da diese auf Veränderungen in ihrem Umfeld sensibel reagieren, sie jedoch nicht immer einteilen können. So ist es dann auch ihre Perspektive, welche Ich seh, ich seh einnimmt, bis in der zweiten Hälfte zunehmend die Mutter in den Mittelpunkt rückt. Dass diese den Film über keinen Namen erhält, ein Mysterium für Kinder und Zuschauer bleibt, ist nur einer der vielen kleinen Kniffe, die den österreichischen Film zu einem atmosphärisch starken Genrebeitrag machen, der nicht ohne Grund schon jetzt für ein US-Remake im Gespräch ist.
Man sollte jedoch etwas härter im Nehmen sein, um die Familiengeschichte genießen zu können: Wenn hier mit der Zeit die Auseinandersetzungen eskalieren und Ich seh, ich seh tief ins Horrorgenre hinüberschielt, dürfte bei dem einen oder anderen die persönliche Schmerzgrenze überschritten werden, im Anschluss dürften die meisten auch eine Weile brauchen, um den Ausflug in die Abgründe verarbeitet zu haben.
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