(„Victoria“ directed by Sebastian Schipper, 2015)
Während einer nächtlichen Clubtour lernt die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) die vier Freunde Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yiğit) und Fuß (Max Mauff) kennen. Man trinkt ein bisschen, zieht zusammen durch die Stadt, albert herum, bis Victoria wieder zurück muss, schließlich wartet morgen ein ganz normaler Arbeitstag im Café. Doch dann kommt es anders: Boxer, frisch aus dem Gefängnis entlassen, schuldet Gangster Andi (André M. Hennicke) noch einen Gefallen für dessen Schutz während der Haft. Und dieser Gefallen sieht so aus, dass die Jungs eine Bank ausrauben sollen. Als der volltrunkene Fuß ausfällt, muss ein kurzfristiger Ersatz her. Victoria, die sich zu Sonne hingezogen fühlt, willigt ein, die Rolle des Vierten zu übernehmen – ohne zu wissen, worauf sie sich da einlässt.
Kaum ein deutscher Film sorgte dieses Jahr bislang wohl für ähnlich viel Furore wie Victoria, der im Wettbewerb der Berlinale lief und nicht nur dort von Kritikern gefeiert wurde. Zu recht? Ja, größtenteils, auch wenn das weniger an der Geschichte liegt, die Elemente von Romanze, Coming of Age, Stadt- bzw. Gesellschaftsporträt, Thriller und Krimi in sich vereint, sondern an der Art und Weise, wie diese umgesetzt wurde: Regisseur und Ko-Autor Sebastian Schipper gelang mit seinem Ensemble eine streckenweise überwältigendes Werk, rau, intensiv, zärtlich und traurig zugleich.
Einen großen Anteil daran hat die Kamera: Wie schon beim Hitchcock-Klassiker Cocktail für eine Leiche oder der diesjährigen grandiosen Tragikomödie Birdman wird auch hier eine Geschichte in Echtzeit und als fortlaufende Sequenz erzählt. Wo die Kollegen jedoch noch tricksen mussten, um diesen Eindruck erwecken zu können, kommt Victoria tatsächlich ohne jeden Schnitt aus. Dreimal ließ Schipper den Film nach einigen Proben in einem Rutsch durchdrehen, die Kinofassung besteht aus der dritten dieser drei Versionen. Auch auf sonst übliche Standards wie eine durchgeplante Ausleuchtung wird hier verzichtet, was das Thrillerdrama weniger schön und kunstvoll macht als die Konkurrenz, dafür aber natürlicher und unmittelbarer. Die Distanz zwischen Geschehen und Zuschauer wird hier schnell aufgehoben, man hat das Gefühl, selbst mit den fünf jungen Menschen unterwegs und ein Komplize von ihnen zu sein.
Unterstützt wird dieser Eindruck durch das Fehlen vorgeschriebener Dialoge. Immer mehr deutsche Filme der letzten Zeit wählten diesen Weg, den Schauspielern keine Worte mehr in den Mund legen zu wollen, sondern sie einfach das sprechen zu lassen, was ihnen in den Sinn kam. Dass Franz Rogowski diese Art der Improvisation liegt, durfte er schon im gefeierten Love Steaks unter Beweis stellen. Aber auch die anderen nutzen die Gelegenheit, um Figuren zu schaffen, die einem tatsächlich über den Weg laufen, während man nachts in Berlin unterwegs ist, auf der Suche nach einem Club, einem Bier und auch sich selbst. Sehr schön ist, wie Victoria zum Porträt einer Jugend wird, die gar nicht weiß, wer sie eigentlich ist. Auf der einen Seite die verschworene Männergruppe, die so gerne so stark wäre, für die sich im Großstadtdschungel aber maximal die Verbrecher interessieren. Und auf der anderen Seite die junge Spanierin, die nach Deutschland kam, als ihr Lebenstraum in der Heimat zerplatzte und die seither ziellos durch die Nacht streift.
All das macht Victoria zu einer faszinierenden Erfahrung. Aber auch einer etwas mühseligen. 140 Minuten ist der Film lang, was dem Erlebnis nicht unbedingt immer gut getan hat. Schon der Anfang gestaltet sich recht zäh, bis der Film mal in die Gänge kommt, vergeht schon eine Weile. Und auch später finden sich immer wieder Szenen, auf die man hätte gut und gern verzichten können. Schlimmer aber noch sind diverse Ungereimtheiten im Drehbuch. Manchmal meint man, eine Folge von „Deutschlands dümmste Verbrecher“ zu sehen, so idiotisch verhält sich das Quintett. Das mag erfrischend sein, anders als bei Hollywoodproduktionen sind hier eben keine Meisterverbrecher am Werk, sondern einfach gestrickte Menschen, die da irgendwie reingerutscht sind. Aber wirklich glauben mag man das nicht, wie so manches im weiteren Verlauf. Das wäre bei anderen Filmen vielleicht gar nicht so auffällig, wenn aber wie hier beim Drumherum soviel Wert auf Authentizität gelegt wird, passt das einfach nicht zusammen. Um Victoria genießen zu können, sollte man deshalb hier besser nicht zu viel nachdenken, sondern sich – begleitet von einem fantastischen Elektroscore – durch das nächtliche Berlin treiben lassen, wo Traum und Alptraum manchmal eng beieinander liegen.
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