(„Shin Seiki Evangerion“ directed by Hideaki Anno, 1995)
Wie schon letzte Woche in Tales of the Night so beschäftigt sich auch Teil 66 unseres fortlaufenden Animationsspecials mit überlieferten Geschichten und sagenhaften Figuren. Familienfreundlich ist das Ergebnis hingegen dieses Mal nicht. Und das ist eine der wenigen definitiven Aussagen, die man über die Serie treffen kann, denn bis heute streiten sich Fans und Kritiker darüber, was diese nun eigentlich genau ist und bedeutet.
Gesehen hatten sich die beiden schon länger nicht mehr, das Verhältnis des 14-jährigen Shinji Ikari zu seinem Vater – dem angesehenen Wissenschaftler Gendō Iraki – ist nach dem Verschwinden seiner Mutter Yui zerrüttet. Als der Schüler auf Wunsch von Gendō nach Neo Tokyo-3 kommt, meint er zunächst, dass sein Vater vielleicht doch die Annäherung sucht. In Wahrheit aber hat dieser etwas ganz Anderes mit seinem Sohn vor: Shinji soll Pilot eines EVAs werden, einer riesigen humanoiden Kampfmaschine, und damit gegen die als Engel bezeichneten Lebensformen antreten, welche die Erde bedrohen. Zunächst völlig überfordert von der Situation, lässt sich der Junge irgendwann doch darauf ein und lernt immer mehr Kinder kennen, die wie er dazu auserkoren sind, die Menschheit zu retten.
Japaner und ihre Riesenroboter: Während im Land der aufgehenden Sonne sogenannte Mechas schon seit den 50ern große Popularität genießen, waren diese im Westen lange Zeit ein reines Nischenprodukt, sieht man einmal von der ursprünglich amerikanisch-japanischen „Transformers“-Linie ab. Erst in den 90ern sollte sich das ändern, woran vor allem Neon Genesis Evangelion einen großen Anteil hatte. Dabei hatte die Serie gar nicht so wahnsinnig viel mit seinen Kollegen gemeinsam, war kein Gundam, kein Macross. Schon die Kampfmaschinen an sich sahen anders aus, hatten ein Eigenleben, ließen die Grenzen zwischen Lebewesen und Technik verwischen. Noch ungewöhnlicher als die menschlichen Roboter waren jedoch ihre Gegner, bizarre Kreaturen in den unterschiedlichsten Formen, Engel genannt.
Nun sind Figuren mit religiösem Hintergrund keine Seltenheit in Manga und Anime, Teufel und Engel gehören mittlerweile zum Standardrepertoire der japanischen Erzählkunst. Doch Neon Genesis Evangelion ging noch weiter, verwies auf die am Toten Meer gefundenen Qumranschriften, auf die göttliche Entstehungsgeschichte des Menschen, auf Adam und Eva, griff zusätzlich Elemente aus anderen Religionen auf. Hinzu kam eine psychologische Komponente, die ab der Mitte immer stärker und in den berühmt-berüchtigten letzten beiden Folgen auf die Spitze getrieben wurde: Die Handlung wird nun komplett aufgegeben, stattdessen rücken die Jugendlichen Protagonisten in den Vordergrund, werden in experimentellen Szenen von innen nach außen gekehrt.
Schon vorher hatte Serienschöpfer Hideaki Anno (Nadia: The Secret of Blue Water) an Depressionen gelitten, im Laufe der Produktion entwickelte er zudem eine große Faszination für psychische Erkrankungen. Ein Wunder war es daher vielleicht nicht, wie verkorkst die Figuren hier sind, dass jeder von tragischen Schicksalen geplagt ist, auch Selbstmorde kein Tabuthema sind. Aber für viele doch ein Ärgernis. Tatsächlich waren die Zuschauer derart erbost über den Abschluss, dass Anno bald darauf zwei neue Filme drehte: Death & Rebirth fasste die ersten 24 der 26 Episoden zusammen und ergänzte diese um einen neuen Schluss, welcher in The End of Evangelion aufgegriffen und zu Ende erzählt wurde.
Dass das Ende auf so wenig Gegenliebe stieß, hing aber auch damit zusammen, dass Neon Genesis Evangelion – groteske Mechas hin, religiöse Anspielungen her – als deutlich konventionellere Serie begonnen hatte, die auf herkömmliche Weise unterhalten wollte. Vor allem die epischen Kämpfe wurden begeistert vom Publikum aufgenommen, da sie nicht nur packend in Szene gesetzt wurden, sondern auch jedes Mal eine andere Taktik von Shinji und seinen Mitstreitern erforderten, jede Auseinandersetzung so zu einem großen und potenziell fatalen Puzzle wurde. Ergänzt wurden diese durch zahlreiche komische Momente, beispielsweise den Warmwasserpinguin Pen-Pen, Shinjis liebestollen Freunde, die kratzbürstige Asuka oder auch Mentor Misato, die sich ausschließlich von Fertiggerichten und Bier ernährt und deren Wohnung immer ein einziges Chaos ist. Humor und Horror lagen hier deshalb oft eng beieinander, später eben ergänzt durch psychologische und philosophische Überlegungen über den Menschen und seine Aufgabe im Leben. Zu einem wirklichen Schluss kommen diese aber nie, Neon Genesis Evangelion dürfte neben Serial Experiments Lain eine der meistdiskutierten Animeserien überhaupt sein, mit vielen interessanten Ansätzen, aber kaum Antworten.
Interessant ist aber auch die visuelle Umsetzung durch die beiden Animationsstudios Gainax (Gurren Lagann, Wish Upon the Pleiades) und Tatsunoko Production (Ping Pong, Psycho-Pass 2). Sonderlich detailreich ist die 1995 gestartete Serie zwar nicht, die Hintergründe sind einfache, oft verschwommene Malereien. Dafür sind die Bewegungen flüssig. Vor allem aber fällt der ungewöhnliche Gebrauch von Farben auf: Immer wieder werden Szenen durch einen starken Einsatz von Rottönen oder auch mal ein Hellblau verfremdet, auch die Perspektiven sind manchmal eigenwillig gewählt. Dadurch sowie durch die existenziellen Momente hat Neon Genesis Evangelion etwas Zeitloses, ist auch 20 Jahre später immer noch sehr empfehlenswert, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, einen Bezug zu Philosophie hat und bei kryptischen Szenen nicht gleich das Handtuch wirft. Deutsche Zuschauer dürfen sich übrigens auf eine recht kuriose Verwendung ihrer Landessprache freuen: Nicht nur, dass auch im Original Begriffe wie „Seele“ oder „Gehirn“ eingebaut wurden, Asuka spricht in der japanischen Version teilweise auf Deutsch, das jedoch mit seinem so starken Akzent, dass hierzulande kaum einer das Gesagte verstehen dürfte.
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