(„The Mysterious Affair at Styles“ directed by Ross Devenish, 1990)
England im Jahr 1917: Während die ganze Welt gespannt das Kriegsgeschehen verfolgt, stirbt nachts auf dem Familiensitz der Styles die wohlhabende Emily Inglethorpe (Gillian Barge). Es wird wohl die Aufregung gewesen sein, denn die ältere Dame hatte am Tag zuvor einen heftigen Streit gehabt. Oder steckt da doch mehr dahinter? Lieutenant Arthur Hastings (Hugh Fraser), der zu dem Zeitpunkt dort Gast ist, vermutet das jedenfalls und sucht deshalb den Rat des befreundeten Meisterdetektivs Hercule Poirot (David Suchet). Und tatsächlich stellt sich bald heraus, dass es tatsächlich Mord durch Vergiftung war. Aber durch wen? Für den Rest der Familie ist klar: Es muss der verhasste Stiefvater Alfred (Michael Cronin) gewesen sein.
Klein, etwas kräftiger gebaut, exzentrisch, vornehm, überheblich, brillant – unter all den Detektiven, die im Laufe der Zeit eine große Krimikarriere eingelegt haben, gehört Hercule Poirot sicherlich zu den seltsamsten, wollte nie unserem Bild entsprechen, das wir insgeheim von Ermittlern pflegen. Aber es waren wohl eben auch diese vielen Eigenheiten, die ihn so beliebt werden ließen, über viele Jahrzehnte hinweg: In 33 Romanen spielte er von 1920 bis 1975 die Hauptrolle, hinzu kommen etwa 50 Kurzgeschichten. Und auch in Film und Fernsehen war der belgische Schnüffler ein gern gesehener Gast, wurde bislang von mehr als einem Dutzend verschiedener Schauspieler verkörpert.
Ein Wunder daher, dass seine Fans geschlagene 70 Jahre warten mussten, bis „Das fehlende Glied“ verfilmt wurde, schließlich handelt es sich dabei nicht nur um den ersten Fall von Hercule Poirot, sondern auch den ersten Roman seiner Schöpferin Agatha Christie überhaupt. Auch der naheliegende Gedanke, damit die Serie Poirot beginnen zu lassen, blieb unerfüllt, stattdessen wurde die spielfilmlange Folge zwischen Staffel 2 und Staffel 3 gezeigt. An der Qualität lag die Missachtung sicher nicht, wie Eine Familie steht unter Verdacht – so der deutsche Filmtitel – beweist. Ursprünglich aufgrund einer Wette entstanden, dass Christie es nicht schaffen würde, einen Krimi zu schreiben, dessen Ende der Leser nicht vorhersehen würde, demonstrierte die Engländerin eindrucksvoll das Gegenteil.
Viele Elemente, die später typisch für sie werden sollten, finden sich bereits hier: falsche Hinweise, ein Familienanwesen voller potenzieller Mörder, eine clever ausgeführte Tat, eine etwas theatralische Auflösung vor versammelter Mannschaft. Im Vergleich zu späteren Geschichten hielt sich Christie mit der Komplexität jedoch zurück, anders als etwa in Tod auf dem Nil oder Das Böse unter der Sonne ist der Mord nicht ganz so absurd überkonstruiert, greift nicht ganz so stark auf Zufälligkeiten zurück. Das senkt zwar den Unterhaltungsfaktor ein wenig, zumal die meisten Figuren ziemlich unauffällig sind, dafür gibt es eine reelle Chance, das Rätsel selbst zu lösen – auch wenn dem Leser etwas unfair ein wichtiger Punkt vorenthalten wird.
Die Umsetzung ist, wie auch die ganze Serie Poirot, stimmungsvoll und hält sich eng an die Vorlage. David Suchet, der von 1989 bis 2002 den Detektiv spielte und für viele die ultimative Verkörperung der Romanfigur ist, ist in seiner Interpretation irgendwo zwischen Albert Finney (Mord im Orient-Express) und Peter Ustinov angesiedelt, kombiniert die intellektuelle Distanz des Ersteren mit den väterlichen Zügen des Zweiten. Darüber hinaus wurde hier noch an seinen verschrobenen Eigenheiten gearbeitet, vor allem sein zwanghafter Ordnungszwang sorgt für kleinere heitere Momente. Insgesamt ist Eine Familie steht unter Verdacht dann auch ein zwar tendenziell unspektakulärer, aber stimmungsvoller TV-Krimi, der für Rätselknacker empfehlenswert ist. Abgerundet wird das Vergnügen durch die gute und stimmige Ausstattung, die einen zurück nimmt in die Zeit des Ersten Weltkrieges.
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